von augenzeuge » 16. Dezember 2010, 19:09
Ein Zeitzeugenbericht zum 17. Juni 1953:
Der vordergründige Anlass für den Arbeiteraufstand in der DDR war die von der damaligen Regierung angeordnete Erfüllung der durchschnittlich um 10% erhöhten Leistungsnorm. Die Propaganda wollte uns wissen lassen, dass der Bergmann Hennecke diese Norm in vorbildlicher Weise weit überschritten hatte, und sie somit für jeden erfüllbar sei.
Schon am 16. Juni protestierten Arbeiter in verschiedenen Städten der DDR und in Ostberlin - hier hauptsächlich Bauarbeiter der Stalinallee – gegen die Normerhöhung. Ich sagte zu Anfang "aus vordergründigem Anlass". Es gab seit Jahren in der DDR eine latente Unzufriedenheit wegen der dortigen Lebensumstände, die jeden Einzelnen – ausgenommen natürlich die Parteifunktionäre – betrafen, und die uns eine außerordentliche Diskrepanz zwischen Propaganda und Wirklichkeit zeigten. Wir hier in Ost-Berlin, die ja damals noch jederzeit nach West-Berlin hineinkamen, konnten das ganz besonders aus unserer praktischen Ansicht nachempfinden und beurteilen. Als weitere Informationsquelle hatten wir ja auch noch den Radiosender "RIAS" (der natürlich auch propagandistisch genutzt wurde) und, ganz wichtig, unsere West-Berliner Arbeitskollegen!
Dies bedarf vielleicht einer kurzen Erklärung. Ich arbeitete zu dieser Zeit, als junger Entwicklungsingenieur, in einem Zweigwerk der ehemaligen Firma AEG–Telefunken (1953 natürlich volkseigener Betrieb OSW). Hier wurden Spezial–Senderöhren für den UKW-Bereich und für Radarsender hergestellt, die natürlich für den Export zur Sowjetunion von besonderer Wichtigkeit waren. Das Hauptwerk von AEG–Telefunken befand sich ursprünglich in Zehlendorf (Zehlendorf gehörte 1953 zu Westberlin). Im letzten Krieg wurden viele hochkarätige Fachleute vom Zehlendorfer Hauptwerk – dieses wurde nach Thüringen verlagert – in unser Zweigwerk überstellt, und so arbeiteten die nun West-Berliner Kollegen weiterhin an ihrer ehemaligen Arbeitsstelle. Als exzellente Experten wurden sie hier auch dringend benötigt, obwohl sie von manch einem Parteifunktionär nur widerwillig geduldet wurden, bzw. geduldet werden mussten.
Diese Kollegen waren eine weitere Informationsquelle für uns. Sahen sie doch die politischen Ereignisse aus ihrer westlichen Perspektive und gaben uns so zusätzliche Einblicke in unsere Lage, die wir dann aus all den Informationen für uns werteten.
Am Abend des 16. Juni versuchte der DDR-Rundfunk die Proteste der Arbeiter herunterzuspielen und kündigte gleichzeitig Gespräche über differenziertere Normenerhöhungen an. RIAS - Berlin dagegen berichtete ausführlich über die Proteste und interviewte einige der Anführer, sprach über ihre Beweggründe und ihr weiteres, zum 17. Juni angekündigtes, Vorgehen. Es wurde zu dieser Zeit schon klar, dass die Proteste eskalieren würden.
Am Morgen des 17. Juni: Ich verließ zur üblichen Zeit unsere Wohnung. Der Rundfunk meldete zu dieser Zeit noch nichts Außergewöhnliches. Kurz vor 7 Uhr war ich an meiner Arbeitsstelle, unsere Westberliner Kollegen fehlten, sie erschienen nicht zur Arbeit. Inzwischen meldete der DDR-Rundfunk (den wir ja im Werk nur hören durften) etwas von örtlichen illegalen Arbeitsniederlegungen, denen sich die mündigen Bürger der DDR auf keinen Fall anschließen sollten.
Die Firmenleitung gab, per Lautsprecherdurchsage, mehrere Male bekannt, dass um 8 Uhr auf dem Hof eine Betriebsversammlung stattfindet, auf der der Betriebsleiter zu uns sprechen wird.
8 Uhr. Alle Betriebsangehörigen befinden sich auf dem Hof. Entgegen der sonstigen Gewohnheit ist das große blecherne Eingangstor geschlossen. Der Betriebsleiter verurteilt in seiner Rede die Streikenden, er verspricht, die geforderten Leistungsnormen den Aufgabenbereichen gemäß anzupassen. Pfiffe und Zwischenrufe unterbrechen die Rede. Und dann geschah es! Wir hörten von der Straße her Tumult. Rufe wie "Löst Walter Ulbricht ab, nieder mit dem Hungerdasein, wir fordern Menschenrechte und Freiheit usw." erschallten. Am Tor entstand Unruhe, wir hörten Hammerschläge auf das Tor fallen. Die Nächststehenden öffneten es. Eine Menschentraube stand davor. Betriebsangehörige aus Köpenicker Betrieben. Sie forderten uns auf, sich ihnen anzuschließen und mit ihnen zur Stalinallee zu marschieren, um dort unsere Forderungen kundzutun. Fast die ganze Belegschaft ging, trotz der Einwände der Betriebsleitung, mit. Ich auch, nachdem ich mir noch schnell eine Stulle (Butterbrot) in die Jackentasche gesteckt hatte.
Unser Marsch führte uns zuerst am AEG-Kabelwerk vorbei. Hier stand das Tor weit offen, und der größte Teil der Betriebsangehörigen kam auf uns zu und schloss sich uns an. Weiter ging es die Wilhelminenhofstraße entlang Richtung Innenstadt. Wir kamen zum AEG-Transformatorenwerk, hier war das große Blechtor geschlossen, aber wir hörten Rufe hinter dem Tor. Eine Gruppe von 12-15 Mann, aus der Spitze der Marschkolonne, ging zum Tor und hörte dort, dass sich die Arbeiter unserem Zug anschließen wollten, aber man es ihnen verwehrte herauszugehen. Ich weiß nicht, woher ein Teil der Männer plötzlich Brecheisen oder ähnliche Werkzeuge hatten, mit denen sie in ganz kurzer Zeit mit Brachialgewalt das Tor aufbrachen. Die Leute strömten hinaus und gingen mit uns.
Inzwischen umfasste unsere Kolonne etwa 700 bis 800 Personen, die nun über die Stubenrauchbrücke in die Köpenicker Landstraße einbogen. Eine schnurgerade Straße von knapp 3 km Länge. Sie führte am Ende direkt am Treptower Park vorbei. Rechts voraus konnten wir, im Park auf einer kleinen Anhöhe, das sowjetische Ehrenmal sehen. Eine Gruppe von etwa 30 jungen Leuten scherte aus der Kolonne aus und wollte das Ehrenmal verwüsten. Es bedurfte eindringlicher und lautstarker Zureden älterer besonnener Kollegen sie davon abzubringen und es ihnen klar zu machen, dass solch ein Vandalismus unserer Sache nur schaden könnte.
Ein einsetzendes Gewitter mit Platzregen kühlte die Gemüter schnell ab. Es gab hier keine Gelegenheit sich irgendwo unterzustellen, und so marschierte unsere Kolonne tapfer aber sehr nass weiter. Ich hatte einen neuen taubengrauen HO-Anzug an, der durch die Nässe steif wie ein Brett wurde und mir nun das Marschieren arg erschwerte.
Für eine kurze Strecke führte unser Weg durch den Amerikanischen Sektor im Bezirk Neukölln. Die Fahrbahn der Straße, die wir benutzten, war durch Eisenbahnschienen, die an betonierten Blöcken geschweißt waren, gesperrt. Ein Hinweisschild tat uns kund, dass wir die Deutsche Demokratische Republik jetzt verlassen würden. Wir hätten dies auch über die offenen Bürgersteige rechts und links der Fahrbahn können, aber die Kolonnenspitze wollte die Grenze, die hier durch die Eisenbahnschienen kenntlich gemacht wurde, auch symbolisch beseitigen, und so musste das Hindernis eben fallen. Man konnte es kaum glauben, und es war für mich fast beängstigend zu sehen, in welch kurzer Zeit, nur durch die wütende Kraft einer Gruppe von Männern, die Betonblöcke gelockert und die Schienen beseitigt waren.
Die Westberliner Polizei eskortierte uns - unter den Bravorufen der Bevölkerung - zur Oberbaumbrücke. Der Osten hatte uns wieder. Nur noch gut 1,5 km, die Warschauerstraße gen Norden entlang, und wir hatten die Stalinallee erreicht. Die Straßen füllten sich mit immer mehr Menschen und unsere, bis jetzt geordnete, Kolonne löste sich langsam in der Menschenmenge auf. Wir hatten nun die Stalinallee erreicht, und merkwürdigerweise kamen uns immer mehr Menschen entgegen. In all dem Lärm vernahmen wir die Rufe: "Panzer, Panzer!", und bald hörten wir auch das Rasseln der Panzerketten und sahen dann die Fahrzeuge die Stalinallee entlang fahren.
Wir, also die Leute in meiner unmittelbaren Umgebung, klaubten die sehr handlichen Pflastersteine aus dem Bürgersteig und bewarfen damit einen der Panzer. Außer dem Scheppern der Steine auf die Panzerung war die Reaktion eher spärlich. Andeutungsweise drehte der Geschützturm in unsere Richtung, aber der Panzer fuhr weiter und schon kurz hinter ihm folgte der nächste.
Es war bei diesem Durcheinander wohl den meisten Leuten, die die Situation noch überschauen und beurteilen konnten, klar, dass von einer geordneten Demonstration und von dem Kundtun von Forderungen keine Rede mehr sein konnte. Die Menschenmassen lösten sich auf und verteilten sich in die Nebenstraßen.
Es war erstaunlich, wie schnell sich in diesen, jetzt ungeordneten, Menschenmassen Nachrichten verbreiteten. So hörten wir, auf der Leipziger Straße würden Panzer in die Menge der Aufständischen schießen und Volkspolizisten im Einsatz gegen die Demonstranten seien.
Dann erfuhren wir, dass inzwischen über Berlin und der gesamten DDR der Ausnahmezustand verhängt worden wäre. Jeder versuchte auf dem schnellsten Wege nach Hause zu kommen. Das war leichter gesagt als getan, denn öffentliche Verkehrsmittel fuhren nicht mehr. Nach einer längeren Strecke Fußmarsch nahm uns endlich ein Lastwagen mit. Hungrig, durstig und auch enttäuscht vom Fehlschlag der Demonstration, kamen wir zu Hause an.
Fazit: Spontaneität mag in vielen Fällen des Lebens von Vorteil sein, nicht aber in der Politik, wenn bestimmte Ziele erreicht werden sollen!
Autor: Manfred Krause
AZ
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