Am 26. November 1969 tauchten in Ostberlin an der Humboldt-Universität Flugblätter auf, die zum Boykott einer marxistischen Pflichtvorlesung aufriefen.
Die Flugblätter kritisierten die SED und endeten mit dem Aufruf , die Vorlesungen in "GeWi", also dem marxistischen Pflichtfach "Gesellschaftswissenschaften" zu boykottieren.
Das traf das die Mächtigen ins Mark. Umso mehr, als der "Angriff auf den Sozialismus" einige Wochen später wiederholt wurde. Ein paar hundert Flugblätter waren es insgesamt nur, mit Durchschlagpapier auf einer Schreibmaschine produziert, 20 Zentimeter breit, 14 Zentimeter hoch und pro Exemplar drei Gramm leicht. Doch sie lösen eine der größten Fahndungsaktionen der DDR-Geschichte aus.
Über Jahre fahndete die Stasi nach den Urhebern. Eine Dokumentation auf Arte zeigt jetzt die Entstehung des Flugblatts und die abenteuerlichen Blüten, die der Ermittlungswahn der Stasi trieb.
Studenten legen in ihrer Universität insgeheim regimekritische Flugblätter aus – und die Geheimpolizei reagiert mit einer gewaltigen Ermittlung.
Die Stasi überprüfte auch alle Personalausweis-Anträge von Ost-Berlinern auf Ähnlichkeiten beim Schriftbild – ohne Ergebnisse. Als nächsten Schritt gingen Erich Mielkes Mannen zum Einsatz ihrer modernsten Videotechnik über: Überwachungskameras wurden in der Universität installiert. Insgesamt kostete die Fahndungsaktion nach den beiden Flugblatt-Autoren die DDR mehr als eine Million Mark.
Doch sie führte zu nichts. Die beiden Studenten waren vorsichtig, und selbst als Schottlaender 1971 nach einem missglückten Fluchtversuch über die ungarisch-jugoslawische Grenze festgenommen und von der Stasi unter dem Vorwurf der "versuchten Republikflucht" verhört wurde, blieb er standhaft. Der Stasi-Vernehmer hielt ihm ein Exemplar des Flugblattes vor, der Häftling las und log ungerührt: "Gefällt mir gut. Leider nicht von mir." So wurde er "nur" zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt und im November 1972 von der Bundesrepublik freigekauft. Die Strafe hätte wesentlich höher ausfallen können, wenn die Stasi erfahren hätte, dass Schottlaender tatsächlich einer der Autoren des Flugblattes war. Sein Freund Michael Müller stellte nach seinem Abschluss einen Ausreiseantrag und kam auf diese Weise in den Westen.
Die Stasi musste ihren "Operativen Vorgang 'Aufwiegler'" 1973 ergebnislos einstellen. Erst jetzt, mit dem Film von Gabriele Dennecke, lüftet sich die Geschichte hinter dem wahrscheinlich teuersten Flugblatt aller Zeiten.
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AZ