von Volker Zottmann » 4. Januar 2021, 16:59
Teil 2
Mitbauer fährt zur Ostsee, und die Spitzel mit ihm. Um sie abzuschütteln, springt er nach einem Halt aus dem anfahrenden Zug. Zu Fuss und per Anhalter erreicht er den Strand. Eine Woche lang beobachtet er, wie der Grenzschutz abends das Wasser kontrolliert, wie die Scheinwerfer regelmässig während einer Minute abgestellt werden, weil sie sonst erhitzen würden.
Diese 60 Sekunden sind sein Ticket in die neue Welt, in dieser Zeit muss er es über die Sandbänke ins tiefe Wasser schaffen, 50, 60 Meter tauchen, um ausserhalb des Lichtkegels zu geraten. Er meldet sich als Rettungsschwimmer an, alles Kalkül, beim Kauf der 30 Tuben Vaseline will er sich nicht verdächtig machen. Die Salben braucht er, um sich gegen die Kälte zu wappnen, die Temperatur in der Ostsee: 17, vielleicht 18 Grad.
Und dann springt er rein, crawlt um sein Leben. Mitbauer weiss: Es muss funktionieren. Sonst ist es vorbei.
Er erfriert nicht, der Boje sei Dank
Sekunden vor der Flucht befindet sich Mitbauer auf einer emotionalen Irrfahrt. «Es war, als stünde ich an einer Kreuzung. Zum Glück wählte ich den richtigen Weg.»
Auf der Boje schlottert er, und doch ist sie sein Wärmepilz. Die Leuchtbojen sind mit Gas betrieben, entsprechend warm ist der Luftabzug. Mitbauer harrt darin aus, die Stunden gehen vorbei, ohne dass er einen klaren Gedanken fasst. Ein paar Fischerboote fahren vorbei, er schreit um Hilfe, aber niemand hört ihn.
Kurz nach sieben in der Früh wird Mitbauer von einem Passagier auf einer Fähre entdeckt, dieser informiert den Kapitän, der von einem Scherz ausgeht. Nach mehrmaligem Insistieren zückt er das Fernglas – und traut den Augen nicht. Da steht einer, auf Boje 2a, fünf Kilometer nur entfernt vom rettenden Ufer im Westen. Heftig wird am Ruder gedreht, die Strickleiter runtergelassen. Mitbauer ruft: «Ich komme von drieben.» Der Kapitän sagt: «Das hört man.»
Bald kennt ganz Deutschland den «Freischwimmer». Er wird der Einzige bleiben, der es schwimmend in den Westen geschafft hat.
Unterkühlt wird der Flüchtige geborgen. Jeder auf dem Schiff will wissen, wer er ist. So logisch die Frage, so überflüssig ist sie bald. Eine Woche später kennt ganz Deutschland den «Freischwimmer». Er wird der Einzige bleiben, der es schwimmend in den Westen geschafft hat.
Fast nackt kommt Mitbauer im neuen Leben an. Mitgenommen hat er einen Ring der Mutter und eine Medaille, die er in die Badehose genäht hatte. Passagiere auf der Fähre schenken ihm was zum Anziehen, Hose, Hemd, Schuhe, zu klein oder zu gross. «Ich sah aus wie ein Clown», sagt Mitbauer.
Im Westen hat er nichts, aber er wird Europameister
Bald wird er ins Auffanglager nach Giessen gebracht. An die Kultur gewöhnt er sich rasch, aber er hat nichts im Westen, «keinen Rappen Besitz», wie er sagt. Das Angebot vom «Stern» kommt gelegen, die Story verkauft er für 10’000 Mark, lässt sich nochmals auf der Boje ablichten. Später sucht ihn Josef Neckermann auf, der Pionier im Versandhandel, er bietet zwei Zimmer an in einer Sportlerunterkunft, dazu 450 Mark Gehalt. Die Bedingung: Mitbauer muss es wieder an die Spitze schaffen.
Das tut er, 1970 wird er mit der Staffel Europameister. Zwei Jahre später soll er an den Olympischen Spielen in München schwimmen, kurz zuvor übt er für den Aufnahmetest zum Sportstudium und verletzt sich – beim Stabhochspringen. Der Unfall beendet seine Karriere.
Im Osten hatte Mitbauer Architektur studieren wollen, im Westen soll es Sport sein. Aber er darf nicht, die Papiere fehlen. Drei Jahre lang versucht die Mutter vergebens, Zeugnisse über die Grenze zu befördern. Trotz aller Stasi-Kontrollen: Die Papiere finden irgendwann den Weg zu ihm, eingepackt in einer Schatulle, über 17 Ecken.
Er wäre auch durch ein Minenfeld gerannt
Für das Ministerium für Staatssicherheit ist Mitbauers Flucht eine Blamage, sie reagiert mit der totalen Überwachung des DDR-Sports. Rund 40’000 Menschen flohen aus dem Osten, darunter 600 Spitzensportler, jeder Abtrünnige wird zum Staatsfeind. Mit Erfolgen erhofft sie sich die Führung Anerkennung, Pokale sollen Ausdruck sein für den Sozialismus als überlegene Gesellschaftsform.
Verräter müssen um ihr Leben fürchten, die Geheimpolizei verübt Mordanschläge auf Dissidenten. Mitbauer fährt auf der Autobahn, als der Wagen nicht gehorcht. Geistesgegenwärtig hält er an, die Radmuttern sind gelockert. Fortan lebt er in Angst.
So erlösend die Flucht auch gewesen ist – Mitbauer zahlt einen hohen Preis dafür. Die Mutter sieht er sieben Jahre lang nicht mehr. «Sie weinte», sagt Mitbauer, «aber sie versuchte nicht, mich aufzuhalten.» Sie wusste, dass es keinen Sinn gemacht hätte. Mitbauer sagt: «Um die DDR verlassen zu können, wäre ich auch durch ein Minenfeld gerannt.»
Die Mutter verleugnet ihn nicht, verliert dadurch alles
Bereits eine Dreiviertelstunde nach Mitbauers Rettung wird die Mutter von der Stasi abgeholt. Jeden zweiten Tag wird sie verhört. Sie soll unterschreiben, keinen Buben mehr zu haben. Weil sie nicht gehorcht, verliert sie ihre Stelle im wissenschaftlichen Dienst. Via Mittelsmänner schickt ihr Mitbauer Geld oder im Osten rare Güter. Etwa Samt – im Westen kostet der Meter 50 Mark, in der DDR 1800. Erst 1976 kann Mitbauer seine Mutter zu sich holen. «Sie litt wegen mir. Aber sie nahm mir das nie übel.» Er pflegt sie bis zu ihrem Tod vor drei Jahren.
Fünfmal sehen sich Vater und Sohn, fünfmal während fünf Minuten. Danach wurde er wieder abgeführt.
Mutters Leid – es hätte für zwei Leben gereicht. Ihr Mann wird 1949 von der «Gruppe Ulbricht», einer sowjetisch geprägten Einheit deutscher Politiker, in Kriegsgefangenschaft genommen, er wird als Faschist bezeichnet und büsst für etwas, was andere angerichtet hatten. Mit 16 war er eingezogen worden, unreif und unwissend. Bis zum Zusammenbruch der DDR bleibt er inhaftiert, 40 Jahre lang. Weil Mitbauer als Schwimmstar Privilegien geniesst, vermittelt die Stasi das eine oder andere Treffen. Fünfmal sehen sich Vater und Sohn, «fünfmal während fünf Minuten, dann wurde er abgeführt».
Richtig kennen gelernt haben sie sich nie, es ist noch so eine tragische Fügung in Mitbauers Leben. 1992 fährt er nach Leipzig, ein Foto des Vaters in der Hand klappert er die Gassen ab. Er findet dessen Wohnung, aber niemand ist da. Ein Nachbar berichtet, der Vater sei vor 14 Tagen gestorben.
Mitbauer schweigt, läuft zum Auto – und bricht auf der Strasse zusammen. «Ich kam zu spät», erzählt er. Man spürt: Es drückt bis heute aufs Gemüt. Zumal die Umstände des Todes mysteriös sind. Auch die Grabstätte ist unauffindbar. «Man sagte mir, er liege irgendwo unter einer Wiese. Fertig. Schluss.»
Auch der Sohn schwamm erfolgreich, im offenen Gewässer
Schwimmer hin oder her – in gewohnten Bahnen ist Mitbauers Leben auch nach der Flucht nicht verlaufen. Er arbeitet auf Sardinien, spannt mit Tiefseetaucher Jacques Mayol zusammen, zieht in die Schweiz. In Basel baut er ein erfolgreiches Schwimmteam auf. Philipp Gilgen führt er an die Sommerspiele 2000 in Sydney, Hanna Miluska gewinnt Medaillen an Welt- und Europameisterschaften.
Das Wasser ist sein Element: Axel Mitbauer trainiert nun die Schwimmtalente in Luzern.
Mitbauer, gross, kräftig, ultratiefe Stimme, ist mit 59 nochmals Vater einer Tochter geworden. Der Sohn ist 29 und ebenfalls ein begnadeter Schwimmer. Er war Deutscher Meister. Natürlich im freien Gewässer.
Vor drei Jahren hat der in Riehen wohnhafte Mitbauer den Ruhestand aufgegeben. Mittlerweile 70, trainiert er die Talente in Luzern, gelegentlich erzählt er seine Geschichte in Schulen. «Politische Bildung», nennt er das.
Immer wieder fragt er sich, was aus ihm geworden wäre, wäre er damals nicht in die Ostsee getaucht. Antworten findet er keine. Er weiss nur: «Diese Nacht hat mir ein neues Leben geschenkt.» Ein freies Leben.
Gruß Volker