
„Nie wieder MfS egal unter welchen Namen!“, forderten im Dezember 1989 die Demonstranten in Rostock. Am 4. stürmten sie die Stasi-Zentrale
Quelle: Roland Hartig
Am 4. Dezember 1989 besetzten Bürgerrechtler in verschiedenen Städten der DDR die Filialen des SED-Geheimdienstes. Als wohl einziger West-Journalist war ein „Welt“-Redakteur unmittelbar dabei.
Der Rauch. Es war der Rauch, der die Situation in Bewegung brachte. Schon seit Tagen, teilweise seit Wochen rauchte es überall in der DDR aus Schornsteinen auf den meist weitläufigen Arealen des Ministeriums für Staatssicherheit, in der Zentrale in Ost-Berlin ebenso wie in den meisten der 16 Bezirksverwaltungen. Akten wurden vernichtet, denn die Geheimpolizisten wollten möglichst viele Beweise für ihre Vergehen beseitigen, bevor ihnen die Kontrolle über Ostdeutschland vollends entglitt.
Doch das Gegenteil trat ein: Die deutlich sichtbaren Vernichtungsbemühungen brachten Bürgerrechtler erst richtig in Wallung. Anfang Dezember 1989 war das Maß voll: In Erfurt, Leipzig und einigen anderen Städten wurden die Filialen des Repressionsapparats nachmittags friedlich umlagert, dann abends besetzt und meist von Militärstaatsanwälten versiegelt.
Offenbar war nur ein einziger westdeutscher Journalist bei einer dieser ersten Besetzung anwesend: Der „Welt“-Redakteur Dankwart Guratzsch hielt sich gerade in der Hansestadt Rostock auf. Er ging mit zur August-Bebel-Straße 15, wo die Staatssicherheit in einem alten Gerichtsgebäude und mehreren Neubauten residierte. Am folgenden Morgen gab er seine Reportage telefonisch an die Redaktion in Bonn durch, am 6. Dezember 1989 erschien der Text in der „Welt“. Zum 25. Jahrestag dokumentieren wir diesen Artikel in neuer Rechtschreibung, ansonsten aber unverändert.
Wir lassen keinen mehr dort raus, bis nicht die Akten sichergestellt sind
„Ich fahre jetzt zur Stasi!“ Rabenschwarze Finsternis auf Rostocks Altem Markt. Der Trabi-Fahrer mit der Schirmmütze hat extra noch einmal die Fahrertür aufgemacht, um den wildfremden Passanten über sein Vorhaben zu informieren. Der glaubt seinen Ohren nicht zu trauen. „Wie bitte?“ Der Mann steigt aus, zieht ein Schreiben aus seiner Tasche: „Offener Brief an das Amt für Nationale Sicherheit, August-Bebel-Straße, Rostock. „Wenn eine Regierung das Vertrauen ihres Volkes gewinnen will, muss sie aufhören, das Volk zu kontrollieren. Dem Nachfolger von Herrn Mielke wurden in Berlin nur zwei leere Panzerschränke übergeben. Damit auch hier in Rostock die Panzerschränke leer werden, bitten wir Sie, uns zum Nikolaustag 1989 unsere ,Stasi-Akten‘ zu übersenden.“ Unterschrieben von Reinhard Haase und Reinhard Wegener.
Vorausgegangen war ein Aufruf: „Zur Verhinderung von Absetzbewegungen und Verschleierungsversuchen in Berlin“. Er war nach der Flucht von Staatssekretär Schalck-Golodkowski von Oppositionsgruppen verfasst und von Regierungssprecher Meier und Volkskammerpräsident Maleuda ausdrücklich begrüßt worden. Aber dass er nun auch auf Einrichtungen des gefürchteten Staatssicherheitsdienstes angewendet werden sollte, das war von den „Neuen Bewegungen“ in Rostock selbstständig und impulsiv am Nachmittag beschlossen worden.
„Wir fahren jetzt dahin und bilden mit anderen eine Menschenkette“, sagt der Mann. „Wir lassen keinen mehr dort raus, bis nicht die Akten sichergestellt sind.“ „Wie findet man denn aber dieses Haus?“, will der Passant wissen. Reinhard Haase sagt: „Das kennt doch in Rostock jedes Kind.“
In der August-Bebel-Straße liegt der Eingang des Stasi-Gebäudes in gleißendes Scheinwerferlicht getaucht. An die 100 junge, aber auch grauhaarige Menschen, darunter auffällig viele Frauen, blockieren die Türen. Sie halten Kerzen in den Händen. Plakate lehnen an Hauswänden und Hecken: „Neues Forum. Mahnwache gegen die Vernichtung von Beweismitteln“ und „Schließt euch an“, lauten die Losungen. Autos fahren hupend vorbei. Aus einem Wagen der Stadtreinigung steigt ein Mann, er stellt das orangerote Blinklicht an. Hinter den abgedunkelten Fenstern rührt sich nichts. „Braucht ihr Verstärkung?“, fragt eine Dame. Sie hat soeben im Konzert von der Aktion gehört. Ein Herr mischt sich ein: „Auch im Theater ist ein Aufruf verlesen worden. Da werden noch viele kommen, wir sind die Ersten“, vermutet er.
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https://www.welt.de/geschichte/article1 ... ermte.html
Eine wunderbare Erinnerung an das extrem mutige Verhalten der Rostocker Bürger....
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