Prof. Dr. Werner Mendling, ein Wuppertaler Gynäkologe, geht 1995 mit seiner Frau, einer Physiotherapeutin, und seinem Sohn nach Frankfurt/Oder; der angesehene Oberarzt wurde von Kollegen aus dem Osten gebeten, die dort frei werdende Chefarzt-Stelle zu übernehmen. Den Ausschlag für seine Entscheidung geben die moderne Struktur der Frankfurter Klinik und die freundliche Art des scheidenden Chefarztes, der in Pension geht.
Dr. Mendling packt also 1995 seine Sachen und zieht Richtung Osten. Er ist neugierig und voller Pioniergeist, und dass er ein paar Wochen in einem Wohnheim im Klinikgelände unterkommt, macht ihm nichts aus. Bald folgen Frau und Kind in jene Stadt, die auch fünf Jahre nach dem Mauerfall noch grau und trist wirkt, mit viel Plattenbau und reichlich Einschluss-Löchern aus dem Jahr 1945 in der Altbau-Substanz. Doch wird die Stadt umsäumt von einer herrlichen Oderlandschaft...
Mehr und mehr setzt dem Mediziner-Ehepaar aus Wuppertal die Ablehnung zu. War es richtig, hierher zu kommen? Sie haben Freunde gewonnen, doch es gibt von Anfang an auch Merkwürdigkeiten: So wurde dem neuen Chefarzt bei Dienstantritt geraten, keinen Einführungsvortrag zu halten, sondern dies einem Ost-Kollegen zu überlassen, um nicht als Besser-Wessi dazustehen. Und irgendwann musste er sich vor dem obersten Klinik-Direktor (der übrigens einige Jahre später als Stasi-Mitarbeiter enttarnt wird), dem Verwaltungschef und der Justitiarin dafür rechtfertigen, dass er sich über den Ausleihzettel eines Fachbuches mokiert hat, auf dem 1996 noch immer „Staatsbibliothek der DDR“ steht...
Buch über den Osten unter einem Pseudonym
Kurz nach der Maßregelung schiebt jemand einen anonymen Brief mit einem diskriminierenden Cartoon unter seiner Diensttür durch. Anhand einer Chiffre erkennt Dr. Mendling den Absender des Briefes: Es ist der leitende Oberarzt der Klinik für Neurologie. Gynäkologe Mendling bietet diesem Mann ein Gespräch an – als Antwort erhält er die Drohung, er werde schon sehen, was er von seinem Auftreten hier hat.
Die Nadelstiche setzen dem Arzt und seiner Frau mehr und mehr zu. Irgendwann verfasst Gabriela Mendling unter dem Pseudonym Luise Endlich ein Buch, in dem sie ihre Erfahrungen als Westdeutsche in Ostdeutschland beschreibt. Schmeichelhaft fällt das nicht aus für Frankfurt/Oder.
Als es 1999 unter dem Titel „Neuland“ erscheint, ist in der Stadt die Hölle los: Schmähartikel in der Zeitung paaren sich mit Rufmord-Kampagnen. In der städtischen Buchhandlung empfiehlt man Interessierten, das Buch von Frau Mendling nicht zu kaufen, damit sie nicht auch noch Geld damit verdiene. In der gynäkologischen Klinik kursieren anonyme Briefe. Zettel liegen im OP-Saal mit Texten wie „Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm, beim Wessi ist es andersrum“.
Sippenhaft für die ganze Familie
Professor Mendling wird schließlich vor den Krankenhaus-Ausschuss der Stadt geladen, im Publikum der später enttarnte Klinik-Chef: Von einem fast 20-köpfigen Gremium, dem nach wie vor mächtigen Mittelmaß der DDR, wird er in die Mangel genommen wegen des Buchs seiner Frau. Längst spürt der Arzt aus Wuppertal, was DDR bedeutet – wieso fast vier Millionen Bürger aus dieser Zwangswelt geflohen sind.
Vielleicht hätten Gabriela und Werner Mendling standgehalten, herrschte in den 90ern nicht noch immer die sozialistische Sippenhaft: Ihr zwölfjähriger Sohn wird plötzlich demonstrativ schlecht benotet. Es häufen sich Schikanen durch ehemalige DDR-Pädagogen, die nun ihr Unwesen in der Demokratie fortsetzen dürfen, bei besserer Bezahlung als zuvor.
Unverblümt teilt eine Lehrerin auf dem Schulhof einer Gruppe von Mitschülern des Jungen mit, die Mutter von Tobias habe gerade ein „ganz beschissenes Buch“ geschrieben. Und als am Schuljahresende den Schülern die neuen Klassenfotos überreicht werden, bekommt ein einziges Kind der Klasse kein Foto – Tobias Mendling. Den weinenden Jungen im Arm, entscheiden die Eltern: „Schluss – hier können wir nicht bleiben.“
Wie lange hält eine Diktatur vor?
Wie lange halten sich Verhaltensmuster einer Diktatur nach ihrem Zusammenbruch? Der Eklat schwappt weit über die Stadtgrenzen, das ARD-Magazin „Kontraste“ sendet einen Beitrag unter dem Titel „Wessi-Mobbing in Frankfurt/Oder“.
Und die Mitbürger? Es gibt Ängstliche, die das Ehepaar durchaus schätzen, sich nun jedoch nicht mehr trauen, mit ihnen gesehen zu werden. Und es gibt Mutigere: Als sich herum spricht, dass Prof. Mendling die Klinik und Frankfurt verlassen will, bitten ihn viele Menschen zu bleiben, und diese Bitte schließt auch seine Frau ein.
Mehrere Ärzte aus Brandenburg schreiben: „Wir wissen, wie die DDR tickte, wir wissen, wie viel davon noch da ist. Deshalb, liebe Frau Mendling, lieber Herr Mendling – bitte bleiben Sie bei uns. Wir brauchen Sie – bitte verlassen Sie uns nicht!“ Die Schwestern halten sich aus der Auseinandersetzung raus.
Viele hat es noch schlimmer erwischt
Im Mai 2000 gibt Prof. Dr. Mendling seine Stelle als Chefarzt der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Frankfurt/Oder auf und geht nach Berlin. Es ist das Jahr, in dem der Berliner „Tagesspiegel“ titelt: „In Ostdeutschland leben: Das ist, im zehnten Jahr der deutschen Einheit, für viele Westler immer noch ein Graus.“
Vielen, doch nicht allen ergeht es ähnlich wie den Mendlings in Frankfurt/Oder. Mancher Westler fühlt sich zehn Jahre nach der deutschen Einheit unter Ostlern so wohl, als hätte man jahrelang gemeinsam Schlange gestanden, auch das gibt es. Vieles hängt von der Atmosphäre in einer Stadt ab, vom Arbeitsplatz, auch davon, ob die mitgereisten Kinder in der neuen Schule gut aufgenommen werden oder sich an ihnen die Engstirnigkeit aus DDR-Tagen fortsetzt.
Gewiss, es gibt noch bösere Einheitsgeschichten als die der beiden Mediziner aus Wuppertal, die es nach Brandenburg zog. Von einer in Gera eingesetzten Bank-Filialleiterin lässt sich berichten, die per Lebensmittelvergiftung zurück in den Westen getrieben wurde. Vom Journalisten aus Hessen, der an die Pinnwand seiner Redaktion zur Vorweihnachtszeit gekritzelt fand: „Advent, Advent, ein Wessi brennt: Erst ein Ärmchen, dann ein Beinchen, dann das ganze Wessi-Schweinchen...“ Erinnert sei an die vielen jungen Lehrer, die in den 1990er Jahren voller Pioniergeist in den Osten aufbrachen und deren pädagogischer Elan von den Erben Margot Honeckers so heftig gestutzt wurde, dass sie schon bald dankbar den berüchtigten Satz aufgriffen: „Wenn es Ihnen nicht passt, dann stellen Sie doch einen Ausreise-Antrag.“
Der vollständige Beitrag hier:
https://www.welt.de/debatte/kommentare/ ... taten.html
Wie lange hält eine Diktatur vor?
Beiträge in diversen Foren lesend stelle ich fest: Mindestens 27 Jahre und das gottseidank nur bei einer Minderheit von Zurückgebliebenen, im wahrsten Sinne des Wortes...