Kann man Chamberlain Schwäche vorwerfen?

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Kann man Chamberlain Schwäche vorwerfen?

Beitragvon pentium » 14. August 2025, 13:21

Ein Gedanke abseits der Details:
Appeasement als Mittel der Vernunft ist m.E. der Normalfall des außenpolitischen Handelns.
Das funktioniert üblicherweise besser als Eskalation und hätte am Vorabend des 1. Weltkriegs die große Katastrophe verhindert.
Das war vor diesem Hintergrund allen Akteuren bewusst.
Peter Neville - Hitler an Appeasement* - hat ein sehr lesenswertes Buch über die Friedensbemühungen von Neville Chamberlain geschrieben.
Eigentlich fasst er den Grund für das Scheitern dieser Politik sehr knapp zusammen: Hitler war nicht "appeasable".
Und das scheint mir ein ungewöhnlicher und nicht einfach erkennbarer Umstand zu sein.
Man hat später Chamberlain Schwäche vorgeworfen, hat ihn als 'funny man with umbrella' karikiert und als 'guilty man' verachtet.
Was er indes machte war der ehrenwerte Versuch den Frieden zu wahren.
Wenn man ihm was vorwerfen will, dann, dass er den unbedingten Kriegswillen Hitlers zunächst nicht erkannte.

Das Münchner Abkommen war ein Fiasko, denn entgegen der Aussage Chamberlains bei seiner Rückkehr aus München, der Friede sei gesichert, war das eher einer der Steine, die die Grundlage des folgenden Krieges bildeten.
Das ist nicht nur die Sicht von jemand, der weiß, wie die Geschichte gelaufen ist, das war auch die Sicht mancher schon damals. So erklärte der tschechoslowakische Außenminister Krofta am 30. September 1938 gegenüber britischen, französischen und italienischen Gesandten u.a. Folgendes:

"Wir unterwerfen uns und werden uns bemühen, unserem Volk ein ruhiges Leben zu sichern. Ich weiß nicht, ob von dieser in München getroffenen Entscheidung Ihre Länder Vorteil haben werden. Allein, wir sind nicht die letzten, nach uns werden andere betroffen werden."

Dabei reisten Chamberlain und Daladier nach München schon in der Absicht, Hitler zu geben, was er verlangte. Und sie versprachen Resttschechoslowakei eine internationale Bestandsgarantie, die sie aber "vergaßen", als sich Hitler nicht einmal ein halbes Jahr später auch den Rest Tschechiens einverleibte....
*Dos Rauschen in Wald hot mir'sch ageta, deß ich mei Haamit net loßen ka!* *Zieht aah dorch onnern Arzgebirg der Grenzgrobn wie ene Kett, der Grenzgrobn taalt de Länder ei, ober onnere Herzen net!* *Waar sei Volk verläßt, daar is net wert, deß'r rümlaaft of daaner Erd!*
Anton Günther

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Re: Kann man Chamberlain Schwäche vorwerfen?

Beitragvon pentium » 14. August 2025, 14:43

Was die Westmächte betrifft:
Sie haben sich dem fait accompli Hitlers gebeugt, sie haben es nicht, wie er es eigentlich wollte, auf den großen Kladderadatsch ankommen lassen, und Frankreich hat ziemlich schnöde seinen Verbündeten CSR im Regen astehen lassen. Das hatte auch fatale Rückwirkungen auf die SU, die ihrerseits auch bald mit den Deutschen auf einen Deal einließen.

Andererseits war die Mehrheit der Österreicher mit dem Anschluss einverstanden, und das Sudetenland war mehrheitlich von Deutsch-Böhmen bewohnt.

Die Westmächte hatten gehofft, mit dem Münchner Abkommen, Hitler-Deutschland einzubinden. Sie hatten schließlich die vollendeten Tatsachen gebilligt, die Hitler geschaffen hatte. Sie hatten die Forderungen Hitlers, die sich mit Kulanz noch als einigermaßen mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker vertretbar interpretieren ließen akzeptiert. Sie haben aber auch deutlich gemacht, dass das die äußersten Zugeständnisse waren. Das war sozusagen ein Angebot, dass das, was Hitler durch Erpressung erreicht hatte, mit der Zeit rechtmäßig wurde, wenn Hitler das kapierte, und sich an die Spielregeln hielt. Das waren realpolitische Zugeständnisse, mit denen jeder halbwegs normale Mensch mit Maß hätte zufrieden sein können.

Chamberlain und Daladier haben die CSR im Grunde preisgegeben, die CSR war nicht einmal beteiligt. Es war das Münchner Abkommen der letztlich erfolglose Versuch, Hitlers Politik in eine europäische Friedensordnung einbinden zu können unter der Voraussetzung, der Geschäftsgrundlage, dass den Forderungen nachgegeben wurde, die noch vertretbar schienen: also Deutsch-Österreich und das Sudetenland. Keinesfalls aber mehr, keinesfalls weitere Erpressungsmanöver. Das war das Angebot, das Erpresste mit der Zeit rechtmäßig werden lassen zu können, wenn Hitler nur sich an die Spielregeln hielt, wenn jetzt endlich Schluss mit Va Banque Spiel, Erpressungen, mit vollendete -Tatsachen-schaffen war. Das eigentlich auch sehr deutlich.

Rückblickend war München fatal, das Angebot der Einbindung, des Appeasement hat Hitler herausgefordert, es wieder darauf ankommen zu lassen. Es war ein Versuch, den Frieden zu sichern, ein Angebot.

Hitlers nächsten Coup, die Zerschlagung der CSR haben die Westmächte schon nicht mehr abgesegnet, und sie haben deutlich gemacht, dass sie zum Widerstand entschlossen waren und sie haben signalisiert, dass beim nächsten Mal Krieg droht, und sie haben nach dem Angriff auf Polen auch Ernst gemacht-

Im Rahmen ihrer Möglichkeiten haben die Westmächte sich spät erst zum energischen Widerstand entschlossen. Hitler hat München als Einladung zu weiteren Erpressungen interpretiert.

Aber so war es nicht gemeint. Es war ein Zugeständnis an Hitler, ein Angebot, aber auch eine Ansage, dass damit nun Schluss mit solchen Manövern sein musste.
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