Die unterschiedlichen Generationen in der DDR

Es gab zwischen beiden deutschen Staaten große Unterschiede in der Sozialpolitik (welche ja eine der Philosophien des DDR-Sozialismus war). Wo lagen die Unterschiede? Wie effektiv waren beide Sozialsysteme? Was war ungerecht, was war gerecht? Wie ist es im Vergleich zu heute?
Der Bereich für Diskussionen zu den Sozialen Systemen der beiden deutschen Staaten.

Die unterschiedlichen Generationen in der DDR

Beitragvon augenzeuge » 14. Dezember 2024, 17:04

Wie in jeder Gesellschaft war Lebenszufriedenheit auch in der DDR ein Ausdruck altersbedingt unterschiedlicher Erfahrungshorizonte derselben Lebensumstände. Die Generationen von DDR-Bürgern unterschieden sich untereinander zudem teils stark in ihren Erfahrungen, ihrer Systemidentifikation sowie ihren Zukunftserwartungen.

Es gab eine Dreiteilung der DDR-Bevölkerung, die Minderheiten der Systemanhänger und der Systemkritiker sowie eine große Mehrheit der Angepassten.


Es gab dabei unterschiedl. Generationen:

-Die Generation der misstrauischen Patriarchen (Die Jüngsten unter ihnen wurden während des Ersten Weltkrieges geboren, die Ältesten in den 1890er Jahren. )
-Die Aufbaugeneration (Eine tief gespaltene Generation bildete die Aufbaugeneration der DDR, zu der die Jahrgänge 1925 bis 1935 gehören. )
-Die funktionierende Generation (Als funktionierende Generation werden die zwischen Mitte der 1930er bis Ende der 1940er Jahre geborenen Jahrgänge zusammengefasst)
-Die integrierte Generation (Die "Integrierten" wurden in den 1950er Jahren geboren und ausschließlich vom DDR-Sozialismus geprägt. )
-Die entgrenzte Generation (Die Angehörigen der entgrenzten Generation wurden zwischen 1960 und 1972 geboren. )
-Wende-Kinder (Die Generation der Wende-Kinder beginnt mit den 1973 und endet mit den 1984 Geborenen.)

Als Generation der misstrauischen Patriarchen wird in der Literatur eine kleine und prägende Gruppe von zumeist kommunistischen Mitbegründer*innen der DDR verstanden. Unter ihren Altersgenossen stellte sie eine isolierte Minderheit mit einem eigenen Lebensstil und Habitus dar. Die Jüngsten unter ihnen wurden während des Ersten Weltkrieges geboren, die Ältesten in den 1890er Jahren. Die Generation war gezeichnet von zwei Weltkriegen und ihren Nachwirkungen, von Not und existentieller Unsicherheit, politischer Verfolgung und den besonderen Erlebnissen des politischen Kampfes bzw. Widerstands. Diese Erlebnisse prägten zeitlebens die Weltanschauung und die Handlungsweisen der Angehörigen dieser Generation. Sie fungierten in der DDR als Träger, Interpreten und Vermittler des Sozialismus. Sie versuchten damit, ihre traumatischen Erfahrungen mit der Hoffnung auf eine große politische Zukunftschance zu kompensieren. Ihre politische und kulturelle Einstellung wies dabei geradezu zivilreligiöse Züge auf (vgl. Ahbe/ Gries 2006a: 92f.). Aufgrund der im NS-Staat gemachten Erfahrungen fehlte ihnen auch nach Gründung der DDR das Grundvertrauen in ihre Mitmenschen. Für sie bedeutete Demokratie die unanfechtbare Vormachtstellung der marxistisch-leninistischen Partei (vgl. Fulbrook 2019).

Eine tief gespaltene Generation bildete die Aufbaugeneration der DDR, zu der die Jahrgänge 1925 bis 1935 gehören. Ihre Kindheit verbrachte diese Generation in den Vorkriegsjahren des Nationalsozialismus (Ahbe/Gries 2006a: 94). Unter dem Diktat der misstrauischen Patriarchen bauten sie die DDR auf. In keinem anderen DDR-Generationszusammenhang war der soziale Aufstieg so stark verbreitet. Die DDR bot, insbesondere den Frauen, soziale Chancen und berufliche Aufstiegsmöglichkeiten, die vom starken Fach- und Führungskräftebedarf sowie von der programmatischen Förderung von Arbeiter- und Bauernkindern angetrieben wurden. So stellten Mitglieder dieser Jahrgänge überproportional oft Leistungsträger der DDR (Ahbe/ Gries 2006a: 94).
Zudem waren viele DDR-Bürger*innen dieser Jahrgänge ausgesprochen systemtreu. Nur wenige von ihnen waren Kirchgänger*innen (vgl. Fulbrook 2019). Planbarkeit, Leistung und Erfolg waren die Maxime dieser Generation. Die Menschen versuchten mit Ausdauer, aber kaum rebellisch, ihr Leben zu meistern. Die Aufbau-Generation wurde in besonderer Weise vom Bau der Mauer betroffen. Bis zum Mauerbau 1961 gab es noch die Möglichkeit, über Berlin in die alten Bundesländer auszuwandern. Die Menschen dieser Generation waren damals jung und gut ausgebildet und hätten in der Bundesrepublik eine neue Existenz aufbauen können. Der systemloyale Teil blieb freiwillig in der DDR (vgl. Ahbe 2007: 45f.; Ahbe/Gries 2006a: 95). Als sich die Geschichte der DDR dem Ende zuneigte, hatten auch die Angehörigen der Aufbau-Generation das Rentenalter erreicht und griffen kaum mehr in die politischen Auseinandersetzungen der 1980er Jahre ein. Die neuen Reise- und Konsummöglichkeiten, die sich nach der Wende boten, nutzten sie indessen aktiv (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 95).

Als funktionierende Generation werden die zwischen Mitte der 1930er bis Ende der 1940er Jahre geborenen Jahrgänge zusammengefasst (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 96ff.). Angehörige dieser Jahrgänge sind geprägt durch die in ihrer Kindheit und Jugend erlittene Kriegsnot. Sie lernten schnell, unauffällig sowie pragmatisch zu sein, eben: zu funktionieren (vgl. Brähler u.a. 2004). Zu ihren Verhaltensregeln gehörte es, nicht negativ aufzufallen, sich nicht entmutigen zu lassen, sich durchzukämpfen sowie keine Fragen zu stellen und nicht anzuklagen. Aus dieser Generation entsprang eine Vielzahl von Bürgerrechtler*innen, welche die friedliche Revolution vorbereiteten und anführten (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 96; Land/ Possekel 1998; Grunenberg 1993). Nach 1990 erging es den Angehörigen dieser Generation schlechter als der Aufbau-Generation. So mussten sie sich den neuen Herausforderungen des Berufslebens unter westlichen Bedingungen bzw. der Arbeitslosigkeit stellen (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 98). Sowohl in den 1970er und 1980er Jahren als auch nach 1990 steckten sie in zweitrangigen Positionen ohne Aussicht auf größere Karriereschritte fest. Zuerst besetzte die Aufbau-Generation diese Posten, nach der Wiedervereinigung waren dies häufig Altersgenossen aus den alten Bundesländern (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 98; Haupt/Liebscher 2005: 129).

........................
"Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist."
„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war“.
"Es ist manchmal gefährlich, Recht zu haben, wenn die Regierung Unrecht hat. (Voltaire)"
Benutzeravatar
augenzeuge
Flucht und Ausreise
Flucht und Ausreise
 
Beiträge: 95243
Bilder: 20
Registriert: 22. April 2010, 07:29
Wohnort: Nordrhein-Westfalen

Re: Die unterschiedlichen Generationen in der DDR

Beitragvon augenzeuge » 14. Dezember 2024, 17:04

................
Die "Integrierten" wurden in den 1950er Jahren geboren und ausschließlich vom DDR-Sozialismus geprägt. Noch bevor sie erwachsen waren, existierte bereits die Mauer zum Westen. In ihrer (Aus)Bildungszeit trafen sie auf Lehrer*innen aus der Aufbau-Generation und wurden im Sinne des offiziellen DDR-Bildes sozialisiert. Ihre Welt war geprägt von sozialer Stabilität, Frieden, mäßig steigendem Wohlstand, teils verordneter, teils gelebter Solidarität und einem in manchen Strukturmerkmalen modernen Bildungssystem. Für sie war vieles Normalität, was für die vorherigen Generationen als besonderes Glück oder Luxus galt.
Ende der 1970er Jahre sowie in der Zeit von Glasnost und Perestroika versiegten ihre Hoffnungen auf wirtschaftlichen Aufschwung und kulturpolitische Liberalisierung. Der Zugang zu West-Medien bot Anschluss an westliche Diskurse, womit das Streben nach Selbstverwirklichung einherging. Der politisierte Teil dieser Generation setzte sich aktiv für langfristige Reformen ein, der bürgerrechtlich orientierte Kern schloss sich der Bewegung der funktionierenden Generation an. Die Menschen dieser Generation sind die einzigen, deren Angehörige in zwei Systemen im Erwerbsleben standen und stehen. (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 98). Nach der Wiedervereinigung waren sie, besonders die Frauen, die eigentlichen Wendeverlierer*innen. Sie hatten oftmals ihre sicheren Arbeitsplätze sowie Betreuungsplätze für ihre Kinder verloren, ihre Bildungsabschlüsse wurden teilweise entwertet. Für den Ruhestand waren sie noch zu jung, als Alternativen standen oft nur Umschulung oder andere Maßnahmen des Arbeitsamtes zur Verfügung. In die Selbständigkeit begaben sich von ihnen nur wenige ( Link hat Vorschau-PopupInterner Link:Beitrag "Selbständigkeit nach der Wiedervereinigung"). Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft schwand (vgl. Fulbrook 2019).

Die Angehörigen der entgrenzten Generation wurden zwischen 1960 und 1972 geboren. Sie absolvierten als letzte Generation ihren Schulabschluss und eine Ausbildung in der DDR. Der Werthorizont und die Sinnvorstellungen dieser Generation griffen, nicht zuletzt durch die westdeutschen Medien vermittelt, über die DDR hinaus. Diese Generation war geprägt von einer neuen Balance zwischen alltagskulturellen Konventionen und individuellen Lebensentwürfen (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 100f.). Sie strebten nach Abwechslung und Konsum (vgl. Gensicke 1992). Ein Generationenkonflikt fand kaum statt. Sie waren tendenziell unideologisch, hatten eine eher pragmatische und visionslose Haltung und rebellierten nicht. Persönliche Bindungen, Heimat und erlebte Geborgenheit bildeten wichtige Identifikationspunkte dieser Generation (vgl. Förster 1999: 102). Die soziale Sicherheit in der DDR wurde von dieser Generation eher als gegeben hingenommen und nicht weiter wertgeschätzt. Der Sozialismus konnte ihnen kaum mehr attraktive Angebote machen. Gedanklich hatten sich bereits vor der friedlichen Revolution viele Menschen dieser Generation von der DDR verabschiedet. Viele von ihnen gehörten zu jenen, die 1988 und 1989 einen Ausreiseantrag stellten oder einen Fluchtversuch unternahmen. Lebensgeschichtlich kam die friedliche Revolution für diese Generation gerade zur richtigen Zeit. Sie konnten sich im vereinten Deutschland gut zurechtfinden. Eine Ausbildung oder eine Berufstätigkeit in den alten Bundesländern waren für sie eine neue Möglichkeit und weniger stark mit Ängsten behaftet wie noch bei ihrer Vorgängergeneration.

Die Generation der Wende-Kinder beginnt mit den 1973 und endet mit den 1984 Geborenen. Sie waren die Letzten, die noch in der DDR eingeschult wurden und ihre Kindheitsjahre verlebten. Sie haben zum Großteil gute Erinnerungen an die DDR. Die friedliche Revolution und die Öffnung der Grenzen, die Einführung der D-Mark und das Verschwinden des Landes, in dem sie heranwuchsen, brachte für sie einen frühen Abschied von ihrer behüteten und durchgeplanten Kindheit (vgl. Ahbe/Gries 2006b: 556f.). Diejenigen, denen in Kindergarten, Schule und den Jugendorganisationen der DDR deren politische Rhetorik vermittelt wurde, nahmen diese für eine wahre und stimmige Weltdeutung, welche mit der Wiedervereinigung auf den Kopf gestellt wurde. Jene, die 1990 bereits Jugendliche waren, mussten den rasant erfolgten Umbruch kognitiv verarbeiten und waren gezwungen, aktiv und selbstbestimmt zu handeln. Je nach Milieuzugehörigkeit wurde die Anpassung unterschiedlich gut bewältigt. Für viele war es nicht einfach, innerhalb der weitreichenden und oft unübersichtlichen Chancen- und Risikostrukturen der 1990er-Jahre eine gute Ausbildung zu absolvieren und sich beruflich einzurichten.
https://www.bpb.de

AZ
"Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist."
„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war“.
"Es ist manchmal gefährlich, Recht zu haben, wenn die Regierung Unrecht hat. (Voltaire)"
Benutzeravatar
augenzeuge
Flucht und Ausreise
Flucht und Ausreise
 
Beiträge: 95243
Bilder: 20
Registriert: 22. April 2010, 07:29
Wohnort: Nordrhein-Westfalen


Zurück zu Soziale Systeme

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 0 Gäste