von pentium » 12. Februar 2024, 14:13
Zwischen Europa und China liegt bekanntermaßen der Nahe Osten. Dieser ist Schauplatz gleich mehrerer Konflikte: Israel kämpft gegen den Terror der Hamas. Und vom Jemen aus attackieren Huthi-Verbände im Golf von Aden und im Roten Meer westliche Handelsschiffe – und damit direkt Versorgungslinien unserer Volkswirtschaft. Welches Gefahrenpotential schlummert in dieser Region?
Der Nahe Osten ist ja seit Jahrzehnten ein ganz eigenes Problemfeld, über das allein sich endlos diskutieren ließe. Aus westlicher Sicht werden derzeit zwei Dinge deutlich: Erstens, die Europäer sind nicht in der Lage, Krisen und Konflikte vor ihrer Haustür zu bewältigen. Und zweitens: Auch die US-Amerikaner haben gehörig an Autorität verloren. Dass zum Beispiel der israelische Ministerpräsident einem US-Präsidenten auf offener Bühne widerspricht, hätte es vor zehn Jahren nicht gegeben.
Im Gegenzug haben die lokalen Mächte vor Ort ihr eigenes Gewicht entdeckt. Ägypten spielt eine große Rolle, verhält sich aber sehr mäßigend, Katar etabliert sich als Vermittler (auch der Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan wurde ja bereits durch den Golfstaat vermittelt) – und nicht zuletzt wächst das Gewicht der rivalisierenden Regionalmächte Saudi-Arabien und Iran. Diese vermeiden in der Regel direkte Konfrontationen und agieren stattdessen über Verbündete. Dass hinter den Huthi, der Hamas und der libanesischen Hisbollah jeweils der Iran steht, zeigt, welches Konfliktpotential in dieser Gemengelage steckt. Und es wird klar, dass es nahezu unmöglich ist, mit den bisherigen Mitteln des militärischen Eingreifens Ordnung zu schaffen.
Insofern kann der Westen hier nur noch auf Kooperationen setzen. Bestimmen wie zu Kolonialzeiten oder während des Kalten Krieges kann er die Verhältnisse vor Ort nicht mehr. Allerdings liegt darin auch die Chance zu einer Neubesinnung und Neuorientierung westlicher Außenpolitik.
In der Geschichtswissenschaft gibt es den Begriff der imperialen Überdehnung, die bislang jedem Weltreich irgendwann zum Verhängnis wurde. Ist diese Überdehnung nun für die USA erreicht?
Ja, eindeutig. Die Vereinigten Staaten unterhalten rund um den Erdball ein Netz von über 800 Stützpunkten und sind damit geopolitisch völlig überdehnt. Ein solches System verlangt enorme finanzielle, personelle, rüstungstechnische und administrative Ressourcen und schafft doch niemals eine dauerhafte Ordnung. Hinzu kommt, dass die USA auch gewaltige interne Probleme haben, zum Beispiel die hohe Staatsverschuldung, die Rückstände in der Infrastruktur und auch die Zuwanderung, die zahlreiche soziale Konflikte zur Folge hat.
Allerdings ist auch Russland durch den Krieg mit der Ukraine überdehnt. Das zeigt sich am Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien, wo Russland zusehen musste, wie Aserbaidschan in die Region Bergkarabach einmarschierte. In der Vergangenheit hätte es eingegriffen und für Ruhe gesorgt.
Insgesamt führt diese Situation, dass den alten Mächten die Kräfte schwinden und neue Akteure nach oben streben, dazu, dass wir auf ein Zeitalter der Ungewissheit und großer Konflikte zusteuern. Umso mehr besorgt mich, dass bei uns darüber kaum diskutiert, geschweige denn angemessen reagiert wird.
Wie sollte sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zu diesem Zeitalter der neuen Unsicherheiten verhalten?
Wir müssen uns zunächst wieder darauf besinnen, welche Aufgabe unsere Außen- und Sicherheitspolitik eigentlich hat. Ein idealer Kompass dafür ist die Präambel des Grundgesetzes, in der es heißt, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Dies entspricht unseren Interessen als großer Handelsnation und mahnt zugleich alle Akteure, sich von internationalen Abenteuern und Risiken fernzuhalten.
Natürlich gehört zu einer klugen Außenpolitik auch eine enge Abstimmung mit unseren europäischen Verbündeten wie Frankreich und Polen. Ohne gegen die EU argumentieren zu wollen, halte ich es für erforderlich, dass das letzte Wort über die Außen- und Sicherheitspolitik von den Mitgliedsstaaten gesprochen wird und nicht in Brüssel. Die Mitgliedsstaaten sind souverän – die Union lediglich ein Bündnis. Zumal sich längst gezeigt hat, dass die oft beschworene „Vertiefung“ der EU keineswegs zu einer Zunahme des geopolitischen Gewichts der Europäer geführt hat.
Klar ist allerdings auch, dass nationale Alleingänge keiner europäischen Nation irgendwelche Vorteile bringen. Deshalb ist es im vorrangigen deutschen Interesse, an einer europäischen Sicherheits- und Friedensordnung mitzuwirken, in der dann auch Russland und die Ukraine ihren Platz haben. Wir brauchen eine Ordnung, die gewährleistet, dass die Interessen aller europäischen Nationen berücksichtigt und etwaige Konflikte friedlich beigelegt werden. Die Chancen, die die Charta von Paris bot, sind leider vertan worden. Es würde sich lohnen, die damaligen guten Vorsätze noch einmal aufzugreifen.
Eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Außen- und Sicherheitspolitik sind auch eigene leistungsfähige Streitkräfte. Deshalb muss die Bundeswehr wieder in die Lage versetzt werden, ihren verfassungsmäßigen Auftrag der Landes- und Bündnisverteidigung zu erfüllen. Dazu muss sie über aufwuchsfähige Strukturen verfügen, um durch eine problemlose Integration von Reservisten schnell einen aufgabengerechten Verteidigungsumfang zu erreichen, mit einem Personalumfang, der das notwendige Fähigkeitsspektrum abdeckt, sowie einer bedrohungsgerechten und technologisch zukunftsfesten Ausrüstung und Bewaffnung.
Unsere Verbündeten fürchten nicht ein starkes, sondern ein schwaches Deutschland. Da müssen wir ansetzen und die Bundeswehr wieder zu einer Armee auf der Höhe der Zeit entwickeln. Dies wäre ein überzeugendes Signal der Entschlossenheit, keine Verschiebung des militärischen Gleichgewichts zu unseren Ungunsten zuzulassen. Letztendlich ist dies jedoch allein keine hinreichende Bedingung des Friedens und der Sicherheit. Deshalb muss der Wille dazu kommen, das militärische Gleichgewicht durch politische Vereinbarungen zu stabilisieren.
Das Gespräch führte René Nehring.
General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.
Dieser Artikel ist ein Beitrag aus der aktuellen PAZ.