Wismut Aue, die Stasi und ein Staatsfeind beim Tortenkauf: Die Akte Burkhard Schulz
Teil I
Im August dieses Jahres verstarb überraschend einer der bekanntesten Auer Fußballanhänger. In seinem Nachlass befinden sich Dokumente aus der Stasi-Unterlagenbehörde. Der Operative Vorgang "Blitz" zeigt auch, dass es den Fans heute viel besser geht als denen früher in der DDR.
Aue.
Es ist exakt 14.28 Uhr, als Burkhard Schulz die Haupttribüne III im Otto-Grotewohl-Stadion in Aue betritt. Er holt ein Sitzkissen aus seiner Umhängetasche, legt es auf eine der kalten Bänke und setzt sich. Vermutlich weiß Schulz nicht, dass an diesem Tag jede seiner Handlungen ganz genau beobachtet wird.
Es ist der 2. März des Jahres 1985. Wismut Aue spielt in der DDR-Fußball-Oberliga gegen den BFC Dynamo, die Lieblingsmannschaft des verhassten wie gefürchteten Stasi-Chefs Erich Mielke. Und weil der Staat mit Ausschreitungen rechnet, sitzen unter den 19.000 Zuschauern auch Spitzel des Ministeriums für Staatssicherheit. Die kennen ihre Pappenheimer. Burkhard Schulz aus dem nur ein paar Kilometer von Aue entfernten Städtchen Zwönitz gehört zu den Köpfen der Auer Fanszene und hat Kontakte zu Vereinen und Fußballanhängern im Westen. Nicht ausgeschlossen, dass Leute wie er bei so einem Spiel wie gegen den BFC Dynamo auf dumme Gedanken kommen.
Vor zwei Monaten ist Burkhard Schulz im Alter von 61 Jahren überraschend gestorben. Bis zuletzt galt er als genialer Fußballstatistiker und Chronist und deswegen auch als dankbarer Gesprächspartner. Ein paar Wochen vor seinem plötzlichen Tod traf sich der Experte noch einmal mit der "Freien Presse", um auch darüber zu reden, wie die Stasi einst bei besonders brisanten Fußballspielen im Stadion zugange war, um Aktionen und Proteste gegen den Arbeiter-und-Bauernstaat und Sympathiebekundungen für den Westen zu verhindern.
Schulz kam pünktlich zu dem Treffen, holte eine Mappe aus der Tasche, in der ein dicker Stapel DIN- A4-Seiten abgeheftet war. "Hier, meine Stasiakte", sagte er. "Mach was draus." Jetzt ist die brisante Dokumentation quasi Bestandteil seines Nachlasses - und gibt Einblick in die Welt eines Nachrichtendienstes, die zwar bereits ausführlichst beschrieben ist, aber immer wieder neue Details und Facetten offenbart.
An jenem ersten Samstag im März des Jahres 1985 beginnt das Ministerium für Staatssicherheit bereits um neun Uhr am Morgen mit der Observierung von Burkhard Schulz. Vielleicht will es schon im Vorfeld des Fußballspiels in Aue irgendwelche Vorbereitungen auf eine DDR-feindliche Aktion unterbinden. Aber Schulz hat andere Dinge zu erledigen. Er setzt sich an diesem Morgen auf sein Moped, einen rot-grauen Spatz, und fährt zum Bäcker. Laut dem Beobachtungsprotokoll der Stasi betritt Schulz den Laden exakt um 9.17 Uhr. "Kurz darauf verließ er die Bäckerei wieder und trug einen Tortenkarton bei sich", heißt es in dem Bericht weiter. Mehrfach wird Schulz aus dem Hinterhalt fotografiert. Er befestigt schließlich den Tortenkarton an seinem Moped und düst zurück nach Hause, wo er dann um 9.27 Uhr eintrifft.
Statt bei der Vorbereitung auf eine subversive Aktion schießt die Stasi Fotos von einem mutmaßlichen Staatsfeind beim Tortenkauf. Das hat was, da fällt einem vielleicht eher Leander Haußmanns "Stasikomödie" ein als ein nervenaufreibender Spionagefilm, in dem es ums Eingemachte geht. Doch so komisch geht es natürlich nicht immer zu. Die Fußballfanszene in der DDR gilt als Subkultur abseits staatlicher Kontrollen und Reglementierungen und damit aus der Perspektive von Partei und Staat als große Gefahr. Da muss die Stasi ran, um zu verhindern, dass nichts aus dem Ruder läuft. Burkhard Schulz ist inzwischen Kassenwart im Fanclub "Blauer Hirsch", und schnell hat die MfS-Kreisdienststelle Aue einen seiner besten Kumpels als Spitzel in die Gruppe eingeschleust. Der Name des Operativen Vorgangs, den die Genossen anlegen, lautet: Blitz.
Damit hat der Geheimdienst seinen Fuß in der Tür. Von Schulz weiß er alsbald, dass er im Mai 1984 nicht wählen gehen will. In dem Arbeiter- und-Bauernstaat ist das ein Sakrileg. Anders als heute in demokratischen Verhältnissen müssen die Nichtwähler in der DDR mit ernsthaften Folgen rechnen. "Schulz begründet seine Entscheidung mit seiner Unzufriedenheit über die allgemeine Lage in der DDR betreffs Straßenwesen und der Versorgung", so der Spitzel an seinen Führungsoffizier.
Schulz & Co. geraten immer mehr ins Fadenkreuz von Horch & Guck. Es gibt Verhöre und Hausdurchsuchungen. Fast der komplette Fanclub wird inzwischen ausspioniert. Auch Uwe Nitzsche hat seine Stasiakte studiert, und man reibt sich heute immer noch die Augen, was die Stasi alles so an wichtigen und unwichtigen Dingen herausgefunden hat. "Die haben uns bespitzelt nach Strich und Faden. Die wussten sogar, wie in meinem Zimmer das Kabel zur Westantenne führte", erzählt Nitzsche der "Freien Presse" am Telefon. Er ist zurzeit als Bauarbeiter auf Montage in der Nähe von Stuttgart. Ein Blick in die Akte zeigt, wie aufmerksam sich der Zuträger in der Wohnung von Nitzsche umgeschaut hat. Eintrag in einem Bericht an die Auer Stasizentrale: "An der Wand hängt ein Plakat aus Prag von der Eishockey-Weltmeisterschaft mit dem BRD-Spieler Erich Kühnhackl." Nitzsche ist übrigens auch ein Beweis dafür, dass die Fanclubs tatsächlich auch ein Sammelbecken von Jugendlichen waren, die mit der DDR nicht allzu viel am Hut hatten. Er habe das Land mehrfach als "Scheißzone" und die Regierung als Verbrecher bezeichnet, steht in den Akten.