Seit dem 13. August 1961 verlief ein Zaun durch Heinrichs Garten, dort, wo bis dahin ihre Sitzgruppe stand und ihr Wäscheplatz war. 1965, als es wieder mehr Baumaterialien gab, wurde die doppelte Mauer errichtet: Mauer, Streifen, Mauer. Nur eine Brücke führte von Klein-Glienicke in den anderen Teil der DDR, nach Potsdam. Die Dorfbewohner, die dort hin wollten, mussten stets ihren Ausweis vorzeigen. In ihrem Pass war ein Stempel. Ohne Kontrolle kam man weder hinein noch aus Klein-Glienicke heraus.
„Wir sagten uns dann immer, anderen Menschen auf der Welt geht es viel schlechter. Es gab keine großen sozialen Unterschiede, jedenfalls hatten wir zunächst diesen Eindruck – denn Unterschiede haben sich in der DDR dann auch herausgebildet.“ Es habe Arbeit und Grundnahrungsmittel gegeben, „wir haben geduldig auf unser Auto gewartet, 20 Jahre lang. Ich hatte Eltern und Geschwister hier, war verwurzelt, und machte viel Sport – so war ich abgelenkt. Und es ist ja so schön hier“, sagt die heute 69-Jährige. Es sieht tatsächlich idyllisch aus: in dem Dorf stehen noch vier der ursprünglich zehn Schweizerhäuser aus dem 19. Jahrhundert.
Doch die Sportlehrerin Heinrich fühlte sich eingesperrt: „Es wurde so eng“. Etliche Häuser wurden abgerissen. Flüchtlinge sollten keine Chance bekommen. Immer wieder waren Menschen über die Mauer gesprungen. In einem Keller wurde monatelang mit einer Kinderschaufel ein Tunnel angelegt, durch den eine Familie entkam. Nach und nach wechselten die Einwohner: Immer mehr, besonders mit der DDR Verbundene, siedelten sich an.
„Diese Leute waren uns nicht angenehm. Und dann das mit der Grenze, mit den Hunden und mit den Kontrollen. Man konnte sich ja nicht bewegen, wie man wollte. Ich war so traurig“, erzählt Heinrich. Dazu kam die Sorge um die Kinder und um die Zukunft. „Einer meiner Schüler hat eine Leiter an die Mauer gestellt und ist abgehauen. Das hatte Konsequenzen: Die Eltern wurden aus dem Ort und aus dem Beruf geschmissen, die stellten dann einen Ausreiseantrag. Die Mutter wurde schwer krank, der Mann hatte sich aufgehängt. Was aus dem Sohn geworden ist, weiß ich immer noch nicht.“ Heinrich zog 1980 mit ihrer Familie nach Potsdam. Die DDR verlassen wollte sie nicht? Man stelle sich das immer so einfach vor, sagt sie. Sie habe Angst gehabt.
Groß war die Erleichterung, als die Mauer fiel. Und bald interessierte sich Heinrich dafür, ob es auch über sie eine Stasi-Akte gab. So ganz glaubte sie nicht daran. Doch die Behörde sagte anderes: Sie könne kommen und sich ihre Akte ansehen. „Ich hatte Magenschmerzen“, erinnert sich Heinrich. [b]Die Stasi hatte gründlich gearbeitet: Briefe, die Heinrich nach Westdeutschland geschickt hatte, waren abgedruckt worden. Man wusste über den Tagesablauf der Familie genau Bescheid, genauso wie über die finanzielle Situation Und es war von „politisch-ideologischen Schwächen“ die Rede. In der Akte waren auch noch so kleine Vorfälle vermerkt: Die Kinder hatten einen Ball über die Mauer zurückgeworfen und die Behörde stellte laut Akte die Frage, ob die Eltern das angeordnet haben könnten zur Kontaktaufnahme. „Als das damals passiert war, sind die Kinder sofort von den Grenzern zurechtgewiesen worden.
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Verbotenes Mauer-Bier
Eigentlich war es ja verboten gewesen, doch die Jugendlichen in Klein-Glienicke haben immer wieder Bier mit dem Nachbarn im Westen über die Mauer ausgetauscht, und die Kinder aus dem Westen sind gern auf die Mauer geklettert – auf die Ostseite hinunterspringen durften sie freilich nicht.
Eine Informantin hieß „IM Erika“: Die Inoffizielle Mitarbeiterin des Ministeriums für Staatssicherheit war eine Frau aus dem Freundeskreis. Oft habe man miteinander gefeiert, sagt Heinrich. In einem Bericht an die Stasi schrieb „Erika“ über Heinrich: „Obwohl die H. Lehrerin ist, soll sie eine recht oberflächliche Bindung zu unserem Land haben.“ „Ich war der Meinung, dass ich meine Rolle perfekt gespielt habe – wobei, es war ja nicht nur eine Rolle. Ich hatte im Sport Erfolge vorzuweisen, habe Schüler in die Volleyball-Nationalmannschaft gebracht. Ich hatte mich nie gegen den Staat gestellt.“
Nach der Akteneinsicht hatte Heinrich eine Panikattacke. Sie wurde ins Spital eingeliefert. Ihre Akte schmiss sie weg. Nur den Bericht der IM Erika hob Heinrich auf. Angesprochen habe sie ihre einstige Freundin nie darauf – sie habe gewartet, „dass Erika dies tun würde“, sagt Heinrich.
AZ