MAUERBAUFenster zur GeschichteRata Timm und Christel Mauser wohnen seit sechzig Jahren im selben Haus. Vor ihren Fenster verlief
die Mauer. Sie schauten raus, als sie hochgezogen wurde. Und als sie fiel. Auf ihre Leben, so sagen sie,
hatten beides kaum Einfluss.Das Herz schlug ihr bis zum Hals, sagte Rita Timm, als sie am Silvesterabend runter zu ihrer Nachbarin
ging. Sie erinnert sich, wie schüchtern sie war, damals als junge Frau, es muss Mitte der 60er Jahre
gewesen sein. Einfach bei Fremden klingeln und sie zum Anstossen einladen? Sie nahm ihren Mut
zusammen, "schließlich will niemand gern allein feiern." Und Christel Mauser, die Nachbarin, kam.
Mit ihren Männern standen die Frauen um Mitternacht an den Fenstern im vierten Stock, prosteten
einander zu. Nach Süden raus sahen sie andere Nachbarn feiern, mit Luftschlangen und Tischfeuerwerk.
Nach Norden blickten sie in ein scheinwerferdämmriges Nichts. Dort, direkt an ihre Häuserzeile in der
Berliner Stallschreiberstraße grenzend, lag der kahlrasierte Todesstreifen. 28 Jahre lang wohnten
Christel Mauser und Rita Timm an der härtesten Grenze der Welt.
Die Geschichte der Frauen, sie spielt in dieser Kulisse der geteilten Stadt, die Mauer ist vielleicht die
wichtigste Requisite. Und doch handelt sie von mehr als "dem hässlichen grauen Ding". Sie erzählt von
Ausbrüchen, von der Angst der isolierten Stadt und der Zeit, in der im Bezirk Kreuzberg wurde, was
Touristen heute dort vermuten. Von der Fähigkeit, sich zufrieden zugeben. Und von Freundschaft.
An diesem Januartag klingelt die 78-jährige Christel bei der 83-jährigen Rita Timm. Sie wohnen noch
immer hier, direkt übereinander, Decke an Fußboden. "Tachchen, meine Liebe!" Christel Mauser hat
Marmelade mitgebracht, "Mandarine, selbst gemacht." Die Frauen umarmen sich. Beide sind zierlich,
tragen Kurzhaarfrisuren und schicke Blusen. Sie wollen nur mit ihrem Mädchennamen in die Zeitung,
bloß ein Schattenfoto machen. Sie genieren sich etwas. Was haben wir schon zu erzählen, wir Alten?",
fragt Mauser, während sie sich für das Bild ans Fenster stellt. Sie schaut heraus, Richtung Norden, sieht
bloß den asphaltierten Weg vor ihrem Haus. Fotograf und Reporterin schauen hinaus und sehen ein Stück
deutscher Geschichte.
...und hier geht es weiter:
https://www.fr.de/panorama/fenster-gesc ... 35400.htmlW. T.