Am 20. Januar 1984 betreten sechs DDR-Bürger die US-Botschaft in Ost-Berlin. Sie gehen in die Bibliothek, stellen eine Reiseschreibmaschine auf den Tisch und tippen einen Brief an den amerikanischen Präsidenten, in dem sie um Asyl bitten.
„Ja es war schon eine abwegige Idee. Wir wollten eine spektakuläre Aktion machen, in der wir nicht beballert unser Leben riskieren, also was weiß ich, über die Mauer springen oder was. Wir sind rein gegangen und haben gesagt, wir gehen hier nicht mehr raus, wir treten in Hungerstreik, und verlassen die Botschaft auch nicht zu Fuß.“
„Wenn wir jetzt da rein gehen, dann gibt es kein Zurück mehr“
Jörg Hejkal ist einer der sechs Botschafts-Besetzer. Heute lebt der 57-Jährige als Fotograf in Köln. An seinem Küchentisch lässt er die Ereignisse von damals Revue passieren. Alle sechs seien in Zweiergruppen auf unterschiedlichen Wegen zur Botschaft gegangen. Hejkal erzählt, er sei am Brandenburger Tor vorbeigelaufen, um zur Botschaft zu kommen.
Vor diesem Tor habe er eines der seltenen Gebete in seinem Leben gesprochen: „Lieber Gott, lass mich irgendwie am Ende des Tages auf der anderen Seite stehen“, erinnert sich Hejkal. „Das war krass, das war wirklich ein sehr bewusster Moment.“ Es sei klar gewesen, dass sie alles zurück gelassen hatten. „Das ist der radikalste Schritt. Wenn wir jetzt da rein gehen, dann gibt es kein Zurück mehr.“
Hejkal schüttelt den Kopf und nippt an seinem Tee. Wahnsinnige Zeit. Unwirklich, heute. Als junger Mann sitzt er vor seiner Botschafts-Besetzung zwei Jahre wegen Republikflucht im Gefängnis. Sein Vater, ein Stasi-Offizier, bespitzelt den eigenen Sohn. Nach seiner Entlassung trifft Hejkal in Ost-Berlin Gesinnungsgenossen. „Und so wussten wir, es gab Fälle von Asyl, weil die Botschaft selber ist ein exterritoriales Gelände des Landes.“ Auf dem Grundstück, auf dem die Botschaft steht, gilt das Recht des Landes, das die Botschaft vertritt.
Als sie dann an die Botschaft gekommen seien, sei der Trick gewesen, so Hejkal: „Wir haben gesagt, wir bleiben jetzt hier, wir gehen hier nicht raus; da haben die gesagt, ihr könnt nicht hier drin bleiben – wir können Sie auch nicht rausschmeißen!“
Das diplomatische Karussell
Die US-Amerikaner trifft die Besetzung völlig unvorbereitet. Jörg Hejkal lehnt sich zurück, dreht seinen grauen Zopf und muss lachen, wenn er daran zurück denkt. „Die waren sehr, sehr freundlich, als wir dort drin waren. So, was nehmen sich denn die Knirpse heraus oder so, hier bei den Amerikanern auf der Botschaft hier so aufzutreten.“ Oder vielleicht sei es auch die Perspektive gewesen, die sie als Ost-Berliner hatten, auf Amerikaner zu schauen, mutmaßt Hejkal. „Es war in irgendeiner Form friedfertig, lustig und ernstzunehmend gleichzeitig.“
Während die sechs in der US-Botschaft ausharren, dreht sich draußen das diplomatische Karussell. Wolfgang Vogel, Honecker-Vertrauter und DDR-Unterhändler in Sachen Häftlingsfreikauf, wird eingeschaltet. Hans Otto Bräutigam, Chef der Ständigen Vertretung in West-Berlin, kommt zu Besuch. Es werden Angebote gemacht: Ihr geht nach Hause und dürft in ein paar Wochen ausreisen. Die Botschaftsflüchtlinge lehnen ab......
Als er in den 80er-Jahren nach Ost-Berlin kommt, sagt sein Chef: „Wir sind ruhig und spielen Tennis.“ Um die Ecke wird die große Politik gemacht, in der herrschaftlichen Botschaft der Sowjetunion Unter den Linden. Die amerikanische Botschaft verfügt gerade mal über zwei Dutzend Mitarbeiter.
„Erinnern Sie sich noch, wie das hier ausgesehen hat?“
„Aber natürlich, sehen Sie hier diese Ecke, wo der Bus ist, war ein OP, ein Observation Post und in der Ecke, da war auch noch einer. Dieses Haus war die Stasi: Südfrüchte unten und elektronische Überwachung oben von uns.“
Ein nasser Novembertag 2019. James D. Bindenagel steht vor einer Baustelle in Berlin-Mitte in der Neustädtischen Kirchstrasse 4. Von dem alten Haus steht nur noch die stuckverzierte Fassade. Und die goldfarbene Metall-Eingangstür. Ein breites Grinsen geht über das Gesicht des ehemaligen Diplomaten. Vor genau 30 Jahren ist er jeden Tag durch diese Tür gegangen, als stellvertretender Botschafter der USA in der DDR.
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