Ein Gespräch mit Ines Geipel über die politische und emotionale Lage in der Bundesrepublik dreißig Jahre nach dem Mauerfall
Im Gespräch mit Niklas Poppe schildert Ines Geipel ihre Sicht auf die gegenwärtige politische Entwicklung im Osten, den Stand der Aufarbeitung von DDR-Unrecht und die Instrumentalisierung der ostdeutschen Geschichte.
NP: Sie haben den Niedergang der DDR vom Westen aus verfolgt, haben aber gleichzeitig Kontakt mit der Bürgerrechtsszene gehabt. In Ihrem neusten Buch wird auf einen Bekannten aus jener Szene verwiesen, der nun der AfD sehr nahesteht. Medien wie der Spiegel hatten bereits zuvor über die Anbindung ehemaliger DDR- Bürgerrechtler*innen an die AfD berichtet. In Anbetracht der Größe dieser Szene erscheint die damalige Berichterstattung extrem selektiv. Haben Sie tatsächlich den Eindruck gewonnen, dass es Tendenzen hin zur AfD aus der Szene gibt?
IG: Die Szene ist groß und sehr verschieden, die Spannbreite unglaublich. Gleichwohl habe ich es in den letzten fünf Jahren, also seit 2015, immer wieder erlebt, dass ehemalige Dissidenten mich angesprochen und gesagt haben: „Hast du das immer noch nicht verstanden? Wir leben längst in der dritten Diktatur.“ Ja, klar, es gibt diese Klientel, es wäre ja auch verwunderlich, wenn nicht.
In meiner Wahrnehmung hat das viel mit dem Nicht-Ankommen im Jetzt zu tun, mit dem nicht wahrgenommenen eigenen Rückgrat zu DDR-Zeiten. Da geht es um Lebensbrüche, verunmöglichte Chancen, und wenn die von der Gesellschaft auf lange Zeit nicht wahrgenommen werden, wird das zur Einflugschneise, um eine andere politische Richtung einzuschlagen. Das ist mir auch bei einigen Mitarbeitern in Hohenschönhausen aufgefallen, die ich jetzt nicht der AfD zusprechen möchte, aber es gibt da doch eine Offenheit, den jetzigen Zustand der Demokratie im Kern infrage zu stellen.
NP: In Bezug darauf wirkt es äußerst fremd, wenn Menschen, die direkt unter der Staatssicherheit und den Repressionen gelitten haben, die Parallele zur DDR so stark ziehen. Warum kommt es gerade bei früheren Gegner*innen und Opfern der DDR zu der Ansicht, man lebe erneut in einer Diktatur, einer „DDR 2.0“?
IG: Ich kann das nur aus einem Konzentrat der Gespräche heraus entwickeln: In meinen Augen geht es noch immer um die Leidensgeschichte des Ostens: 300.000 politische Häftlinge, die Toten an der Mauer, 75.000 wegen Flucht Inhaftierte, eine halbe Million in Kinderheimen, Millionen Flüchtlinge. Da ist so viel gebrochenes, zerrissenes, klein gemachtes, zerstörtes Leben. Und daran wiederum hängen Ehen, Kinder, Freunde. Das sind unendliche innere Seelenzeitschienen.
Was will ich sagen? Wir sehen heute, dass wir uns das Ganze nach 1989 leichter vorgestellt haben. Die Revolution war da, die Einheit auch, also, wo ist das Problem? Mittlerweile wird klar, dass das naiv war, dass man so salopp nicht über mehr als fünfzig Jahre Diktaturgeschichte hinwegkommen kann, selbst wenn der Wunsch groß war. Nein. Es geht um staatlich verursachte Traumata, die wir nur schwer loswerden, und um die wir als Ost-Gesellschaft nicht trauern konnten, weil dieser innere Kern nach 1989 immer wieder überschrieben und auch instrumentalisiert wurde. Deshalb kann man im Grunde das alte DDR-Kollektiv heute recht umstandslos neu aufladen. Man kann es neu formatieren. Das haben die Linken bis 2015 gemacht, und das schafft die AfD nun noch leichter. Es ist eine schiefe und auch perfide Identitätspolitik. Doch je schiefer und blöder die Bilder, die aktuell benutzt werden, umso größer die Erfolge der Populisten. Das ist emotionale Schizophrenie.
Das interessante Gespräch geht hier weiter:
https://zeitgeschichte-online.de/node/57942