DER SPIEGEL - 7/1961- Harakiri auf ostdeutsch
Die mit dem weitesten Weg müssen schon kurz nach zwei Uhr nachts aus dem Bett. Um drei Uhr
verläßt ein Omnibus mit schlaftrunkenen Frauen die Stadt Gotha und fährt auf der Nordthüringer
Autobahn an Erfurt, Weimar und Jena vorbei zum Hermsdorfer Kreuz. Sein Ziel ist das Versandhaus
Quelle in Fürth bei Nürnberg, 280 Kilometer und drei Fahrstunden von Gotha entfernt.
Über einen privaten Vermittler angeheuert, müssen die Frauen zur Frühschicht um sechs zur Stelle
sein, um den einheimischen Kräften beim Packen zu helfen und die Flut, die nicht nur der Bestellungen
vor allem aus den neuen Bundesländern zu bewältigen - die Flut, die nicht nur dieses Versandhaus
unter sich begraben hat, denn die ehemaligen Mangelwirtschaftsopfer in der Ex-DDR sind noch immer so
ausgehungert nach Westwaren, dass auch die unerschöpflich erscheinenden Vorratslager der Familie
Schickedanz, nicht anders als die von Neckermann und Otto, partienweise so kahlgefegt wurden wie
ein Moskauer Fleischerladen.
Um sechs Uhr abends, wenn sie Glück haben, kommen die Frauen aus Gotha wieder nach Hause. Meist
bleiben ihnen kaum sieben Stunden für die Familie und die eigene Müdigkeit, ehe sie sich zum nächsten
Rundtrip nach Fürth erheben müssen - viermal in der Woche.
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W. T.