Ein Artikel aus dem Spiegel vom Januar 1990. Wir wissen ja, wie es ausgegangen ist.
Mindestens 500 000 DDR-Bürger werden in diesem Jahr in die Bundesrepublik übersiedeln, Hunderttausende kommen aus den Ostblockstaaten. Wer soll die Einwanderer bezahlen? Der Kampf um Jobs und Wohnungen wird härter; Renten- und Krankenversicherungen sehen sich enormen Zusatzforderungen ausgesetzt.
Sorgenvoll werden die Zahlen der Neubürger addiert und hochgerechnet. Täglich wechseln derzeit bis zu 2000 Deutsche-Ost nach Deutschland-West, für das ganze Jahr werden in Bonn mehr als eine halbe Million Übersiedler nicht mehr ausgeschlossen. Bleibt die Wirtschaftslage der DDR so trostlos wie im Augenblick, verschlimmert sie sich gar, so dürfte der Strom der Abwanderer noch deutlich anschwellen.
Dazu kommen jene, die aus osteuropäischen Staaten und der Sowjetunion ins vermeintliche Paradies Bundesrepublik umziehen. Alles zusammen wird das westliche Deutschland in diesem Jahr durch Aus- und Übersiedler eine Million Bürger dazugewinnen, mindestens. Bereits 1989 waren es 720 000 Aus- und Übersiedler.
Ängste machen sich breit.....
Die Aus- und Übersiedler und ihre vermeintliche oder tatsächliche Bevorzugung bei Arbeit und Wohnung, Rente und Krankheitskosten - dieses Thema droht zu einem Hit des Wahlkampfjahres 1990 in der Bundesrepublik zu werden.
Ein DDR Bürger möchte eine Herz-OP im Westen für 140.000 DM, wer zahlt?
Brieflich bat Frau Stahmer Bundeskanzler Helmut Kohl, die Konten der Ortskrankenkasse schnell aufzufüllen. Aus Eigenmitteln können die Berliner Operationen und Brillen, neue Zähne und Grippemittel für die Besucher aus dem Osten nicht mehr bezahlen.
Dringlich müsse der DDR geholfen werden, so schrieb die Senatorin an Helmut Kohl, die Gesundheitsleistungen drüben zu verbessern. Sonst, so die Befürchtung, stehe eine neue Kostenexplosion im westdeutschen Gesundheitswesen bevor.
Wenn ein Ost-Berliner in West-Berlin studiert, dann hat er dort Anspruch auf ein Bafög-Stipendium in Höhe von rund 850 Mark. Tauscht er das bei dem derzeitigen Kurs von 1:7 in Ostmark um, dann erreicht er leicht das Einkommen seines Ministerpräsidenten Hans Modrow.
Zwei Drittel der ostdeutschen Ruheständler erreichen nach 45 Versicherungsjahren lediglich die DDR-Mindestrente von 470 Ostmark. Im Westen gibt es um die 1600 D-Mark - ein Einkommen, das die Ostrente bei einem Tauschverhältnis von 1:7 um mehr als das Zwanzigfache übersteigt.
Und was kommt noch auf alle zu?
Die frierenden Rumänen, seit Anfang des Jahres frei zu reisen, werden sich an ihre Deutschstämmigkeit erinnern. Von den dort lebenden 230 000 Rumänien-Deutschen, Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben, werden rund 80 Prozent in die Bundesrepublik kommen......
Vom Sommer an will Moskau seinen Bürgern freie Ausreise gewähren. Hunderttausende sind nach derzeitiger Rechtslage in der Bundesrepublik willkommen und haben Anspruch auf Sozialleistungen. Innenminister Wolfgang Schäuble rechnet allein in diesem Jahr mit insgesamt bis zu 600 000 Aussiedlern.
Wer soll das bezahlen? In der Bundesrepublik fehlten schon vor einem Jahr 700 000 Wohnungen.
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13498568.html
AZ