DER SPIEGEL - 37/1990 - Demoralisierte Sowjetarmee in der DDR
Kapitalismus am Kasernentor
Der hochgewachsene Major, an den Schläfen schon ergraut, nimmt die Videokassette in die Hand,
studiert sie lange, fragt, wie viele Minuten der Film läuft, dann greift er zu einer anderen.
Schließlich entscheidet er sich für das Kunstwerk "Jung und offen untenherum", legt dafür einen
Zwanzigmarkschein aufs Brett und enteilt mit der Kassette, auf deren Cover ein nacktes
Mädchen die Schenkel spreizt, in Richtung Kaserne.
Der Offizier hat eben den Grundstein fürs Überleben in der Heimat gelegt: einen Zwanziger für
einen Pornofilm, der sich auf Leerkassetten überspielen und pro Kopie für gut das Zehnfache
zu Hause verkaufen läßt. Zudem können damit private Kino-Abende organisiert werden,
Eintritt für die heiße Schau mindestens zehn Rubel pro Kopf - alles in allem eine zukunftsträchtige
Investition.
Der Soldat am Stand gegenüber wappnet sich simpler für eine mögliche Karriere in der Heimat,
die ihm, wie er weiß, weder Arbeit noch Bleibe zu bieten haben wird: Sorgfältig prüft er die auf
dem Tisch ausgelegten Springmesser, läßt fachmännisch die Klinge herausschnellen und kauft
schließlich das teuerste - es hat die längste Klinge und ist mithin sicher am wirksamsten, wenn
man schon mal zustechen muß.
Beiderseits der Bahnstation von Wünsdorf in der Mark südlich von Berlin, wo Militärzüge nach Moskau
und Kiew halten, verramschen in diesen Tagen Angehörige von ehemaligen Beutevölkern der
Sowjetunion, als diese noch ein Imperium war, Schund an die Noch-Besatzer der DDR. Qualifiziert
sind die polnischen, vietnamesischen, georgischen Händler vor allem durch ihre ihnen einst
aufgezwungene Kenntnis des Russischen sowie das Wissen um die Wünsche des vormaligen Herren-
Volkes: Auf Brettern und Kisten stapeln sich Billig-Schokolade, Shampoo, französischer Landwein in
Papptüten, "Kellergeister"-Flaschen, Puschkin-Wodka, Marlboro-Zigaretten unter Ladenpreis
(drei Mark pro Schachtel, obgleich mit Banderole)
Daneben aber auch die als Symbol westlicher Lebensart nach wie vor heiß begehrten "Dschinsy"
(Jeans), überteuerte Lederjacken, orientalischer Machart, Dosenbier, Batterien, Autowerkzeug
und etwas, was die Amerikaner Getto-Blaster nennen: Kassettenrecorder mit zwei dröhnenden
Lautsprechern.
Auf dem rußverschmierten Platz zwischen dem rußverschmierten Bahnhof, den verrottenden
Häusern ringsum und den schiefen Kasernenmauern des Hauptquartiers der "Westgruppe der
Streitkräfte" (früher: "Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland") rüstet sich in diesen
Wochen die Sowjetarmee selbst ab - geistig, moralisch, tatsächlich. Dort ist Tag für Tag
buchstäblich zu beobachten, wie eine einst glorreiche Truppe, so scheint es, insgesamt mit
Deutscher Mark gekauft wurde und nun zerbröckelt.
W. T.