„Es hat sich gelohnt“
Ein Transparent und seine Geschichte – Christine Böhme und Gert Zetzsche erinnern an die Montagsdemo vor 30 Jahren
Von Thomas Mayer
Heute vor 30 Jahren gab es in Leipzig erneut eine Montagsdemo. 100 000 waren wieder auf der Straße, vor dem Marsch um den Ring fand nach Wochen der Pause eine Kundgebung statt. Die war von den Oppositionsgruppen eingefordert worden. Mit ihrem Plakat „Kommt auch nach dem ersten Schnee, sonst freut sich die SED!“ gehörten Christine Böhme und Gert Zetzsche zu den Demonstranten.
Christine Böhme und Gert Zetzsche und ihr Transparent, mit dem sie ab Januar 1990 an den Montagsdemonstrationen teilnahmen. Foto: privat
Beide sind heute im Rentenalter – und sahen sich nach langer Zeit vergangene Woche erstmals wieder. Zetzsche hatte „völlig überrascht“ in der Leipziger Volkszeitung vom 8. Januar das von ihm gestaltete Transparent entdeckt und seine ehemalige Kollegin informiert. Christine Böhme war vor 30 Jahren die Leiterin des Geschäfts der Altenburger Spielkartenfabrik unter den Arkaden vom Alten Rathaus, Zetzsche der Geschäftsstellenleiter der „Schmuckschatulle“ nebenan, beide Handelseinrichtungen gehörten zum Konsum Leipzig.
„Wo ist die Zeit nur hin?“, fragt Christine Böhme beim Treffen. Zetzsche weiß noch, dass er das Plakat im Geschäft gestaltete. Wie er auf den Spruch gekommen war, kann er nicht mehr sagen: „Es reimte sich ganz gut. Mit der SED hatten wir nichts am Hut, beim Konsum musste man nicht Mitglied sein.“ Nach der Weihnachtspause der Demonstrationen, an denen er und seine Kollegin ab dem 9. Oktober immer dabei waren, wollten die beiden nicht nur einfach mitlaufen, sondern selbst mal die Meinung kundtun.
„Montags schlossen wir unsere Läden meist schon 17 Uhr. Ich kann mich noch erinnern, wie in der heißen Phase der Revolution die Stasileute von der Runden Ecke über den Markt kamen, und auf dem damaligen Messeamt wurden die Überwachungskameras aufgebaut. Am
9. Oktober hatte ich richtig Angst, dennoch bin ich zur Demo gegangen“, erinnert sich Christine Böhme. Nicht zuletzt, weil ihr Ehemann zu jenen gehörte, die bei den Protesten am 7. Oktober im Stadtzentrum verhaftet und eine Nacht in den Ställen auf dem Agra-Gelände festgehalten worden waren.
Christine Böhme (67) und Gert Zetzsche (71) sind sich einig: „Es hat sich gelohnt, dass auch wir vor
30 Jahren auf die Straßen gingen.“ Ihre Konsum-Verkaufsstellen wurden 1992 geschlossen, heute ist darin das Fachgeschäft von Bodo Zeidler für Meissner Porzellan zu finden. Christine Böhme arbeitete danach über viele Jahre beim Bekleidungsunternehmen Wöhrl, Gert Zetzsche wurde mit seiner Qualifikation als Schmuck- und Uhrenfachverkäufer unter 200 Bewerbern bei der Metro angestellt und übte den Job bis zur Pensionierung aus.
Das Transparent gab Zetzsche nach der letzten Montagsdemonstration, die am 12. März 1990 stattfand, im Alten Rathaus ab, wo die Dokumente auf dem Dachboden gesammelt wurden. Was aus seinem Banner geworden ist, weiß er nicht. Der Schnee von gestern ist die Geschichte aber nicht.
© Leipziger Volkszeitung, 22. Januar 2020