Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle/Saale, wuchs in Leipzig auf. Sein Debütroman „Als wir träumten“ erschien 2006, zuletzt veröffentlichte er die Erzählsammlung „Die stillen Trabanten“.
Und über Bitterfeld brannte der Himmel
Vom Herbst 1989 in den Herbst 1990 und wieder zurück: Es war eine Zeit der Beschleunigung, des Aufbruchs, der Euphorie, schreibt der in Halle/Saale geborene Autor. Clemens Meyer
Als ich am 2. Oktober 1990 mit meinem Fahrrad abends durch den Südosten von Leipzig fuhr, hatte ich mir einen Fetzen schwarze Seide an den Aufschlag meiner Jacke gesteckt. Es war die letzte Nacht der DDR, ich war dreizehn Jahre alt, und es war wieder Herbst und seit dem letzten Herbst, 1989, hatte sich alles, aber auch alles, geändert. Heute frage ich mich, was das für eine pubertäre Anwandlung gewesen sein mag, dieses schwarze Stückchen Stoff, wem oder was wollte ich denn nachtrauern? Der Kindheit?
Oder war es eher ein Folgen der Ideen meiner Mutter, für die der Untergang der DDR, die Wiedervereinigung, ein endgültiger Abschied von der Vision eines reformierten, demokratischen Sozialismus war, der sie in diesem einem Jahr voller Hoffnung nachgegangen war?
Was passierte in dieser Nacht, in der ich mit meinem schwarzen Seidenband durchs Viertel fuhr? Ich erinnere mich an DDR-Fahnen, aus denen das Emblem herausgeschnitten war. Hier und da wurde auch eine Fahne verbrannt nach 22 Uhr, später wurden Feuerwerkskörper gezündet, Gruppen von Menschen standen vor den Häusern, in anderen Straßen herrschte seltsame Stille, hatten sich die Bewohner in ihre Häuser zurückgezogen, schienen sogar die Fenster dunkel, alte Leute sah man kaum in dieser Nacht, in der die neuen Spätverkäufe und Imbissbuden den Geschmack der blühenden Landschaften vorwegnahmen, die Bierbüchsenflut hatte die Stadt ja schon spätestens seit der Währungsunion im Juli im Griff, zu zehntausenden lagen sie platt getreten auf den Gehwegen, es war eine wahre Bierdosenrevolution, die auch mich und die Jugend wenig später erreichte. Traf ich mich an diesem Abend noch mit meinem besten Freund?, der zwölf Jahre später an einer Überdosis sterben würde.
Knapp einen Monat nach dieser sogenannten Wiedervereinigung, am 9. November 1990, waren wir wieder einmal, meine Mutter, meine Schwester, ich, auf den Straßen im Zentrum der Stadt unterwegs. Zusammen mit anderen Menschen. Es waren nicht so viele wie im Herbst zuvor, obwohl die wahren und wenigen Mutigen ja schon im Sommer und Spätsommer 89 sich vor und in der Nikolaikirche trafen.
Am 9. November 1990 liefen wir schweigend zum Gedenken an die Reichskristallnacht, ein Stück über den Ring, an der nicht mehr vorhandenen Synagoge vorbei, dann weiter durch die Innenstadt. Ich kann mich nicht erinnern, ob es tausende waren, oder eher weniger.
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