Wo aus Osten Westen wird - Die Wende - 9.9.2004 - 15 Jahre danach
Teil I
In Schlutup fand 1989 für ein paar Tage Weltgeschichte statt. Doch zum Nabel der Welt wurde der
Lübecker Stadtteil nicht. Er liegt heute fast so abgeschrieben am Ostrand der Stadt wie vor dem
großen Ansturm der DDR-Bürger.
"Ein bisschen Ernüchterung ist eingekehrt", sagt Jürgen Schreiber (58), Vorsitzender des Gemeinnützigen
Vereins Schlutup, 15 Jahre nach jenem November-Abend, der bis dahin behagliche Lübecker Stadtteil für
eine Nacht Weltgeschichte schrieb. Beige und himmelblaue Trabis mit DDR-Bürgern schoben sich in
jener Nacht von Selmsdorf nach Schlutup, vorbei an irritierten und vergeblich protestierenden Vopos.
Wessis trommelten vor Freude auf die Plaste-Dächer, reichten Bananen und Schokolade und Rosen in
die stinkenden Zweitakter, die plötzlich nach Freiheit dufteten. Ossis weinten vor Freude. Der Kalte Krieg,
er endete zuerst auch in Schlutup.
Nein, der große Boom in Einzelhandel, den sich viele damals erhofft hatten, nein, der große Aufbruch
hat in diesem Lübecker Stadtteil (6000 Einwohner) niemals stattgefunden. Was ist geblieben? "beinahe nichts",
sagt Schreiber. Ein paar wiederbelebte Kontakte, ein paar neue Freundschaften natürlich zwischen den
Menschen hüben und drüben. Und eine neue Himmelsrichtung mit einem Gewerbegebiet gleich hinter der
Landesgrenze zu Mecklenburg-Vorpommern.
Aber sonst? In Schlutup gibt (gab) es einen Schlecker-, einen Plus- und einen Skymarkt, zwei Dönerimbisse
und beinahe benachbart zwei Griechen. Das Feuerwehrhaus und die Kirche stehen mitten im Dorf, das
Schwimmbad ist frisch saniert. Ins alte Zollhaus zieht demnächst ein Museum, die Renovierung läuft.
Im Schaukasten des Sportvereins an der Sparkasse prangen Fotos von den erfolgreichen Jugendsportlern
und der Hinweis auf den baldigen Laternen- und Fackelzug von TSV und Siedlergemeinschaft. Der Hafen
boomt, es gibt reichlich Betriebe vor allem in der fischverarbeitenden Industrie. an der Spitze einer der
bundesdeutschen Marktführer: Hawesta.
Das klingt nach heiler Welt, nach Idylle. Aber die Fassade täuscht. Alteingesessene Geschäfte mussten
in den vergangenen Jahren aufgeben in einem Dorf, das von Lübeck über viele Jahrzehnte autark schien:
Die Schlachterei Arendt hat geschlossen, der Lebensmittelhändler Rascher, der Bäcker Schümann, das
Textilhaus Kanüle, die Schlachterei Schmidt. Auch der Lebensmittelkonzern Kühne hat den Standort Schlutup
aufgegeben, sucht für seine Industriebrache einen neuen Eigentümer. "Nicht gut", sagt Schreiber, "irgendwie
gehörten sie alle zum Dorf dazu."
Aber die Pendler von Ost Und West, die fahren eben nur durch. Die meisten halten nicht an", weiß Schreiber.
Er und seine Schlutuper wollen diese ungebetenen Gäste nicht mehr haben. Auf Mecklenburger Seite wurde
kürzlich ein Verkehrsschild aufgestellt, das die Nachtdurchfahrt verbietet. Der Selmsdorfer Bürgermeister
Detlev Hizigrat hat dagegen protestiert, droht mit einer Klage: Neue Mauern würden die Schlutuper hochziehen.
W. T.