Abschied
von Wernhild Bär
Die Zeit anhalten
Die Finsternis der Nacht und eine erdrückende Stille um mich herum bedrohen mich. Ich wälze mich im Bett hin und her. Das Schnarchen von Jürgen, meinem Mann, unterbricht kurz die Stille. Erinnerungen – Bilder ziehen an mir ( der Autorin ) vorbei.
Fünfzehnter Mai Neunzehnhundertfünfundachtzig. Drei Monate ist es erst her als unsere ältere Tochter G. (21 J.) zu ihrem Mann in die BRD übersiedelte. Quälende Gedanken plagen mich. Wenn diese Nacht vorüber ist wird unsere jüngere Tochter den gleichen Weg gehen. M. (18 J.) – selbst fast noch ein Kind, mit ihrer Tochter – unserer Enkeltochter N. Mitternacht ist längst vorbei, ich kann immer noch nicht schlafen und wünsche mir, dass diese Nacht nie zu Ende geht. Wünsche ich mir wirklich, dass es ewig Nacht bleibt, dass die quälenden Gefühle nie ein Ende nehmen? Nein, ich möchte gern die Zeit zurückdrehen und anhalten, ich wünsche mir, es gäbe kein Morgen. Aber die Dunkelheit weicht unaufhaltsam dem grauen Morgen. Immer noch bin ich wach und die Angst schnürt mir fast die Luft ab.
Im Bauch hab ich das Gefühl von einem Stein so groß wie ein Fels, der mich fast erdrückt. Ich muss, ja ich muss mich zusammennehmen, ich will den anderen meinen Schmerz nicht zeigen. Mein Körper fühlt sich schwer und gelähmt an, aber ich muss aufstehen, ich muss endlich aus dem Bett. Langsam schleppe ich mich ins Bad und gehe dann in die Küche. Was will ich hier? Bin ich es, die den Frühstückstisch deckt? Mein Hals ist zugeschnürt. Da höre ich Schritte im Haus und die Tür geht auf. M. hält N. in ihren Armen und murmelt leise vor sich hin: "Guten Morgen." Ich will auf sie zugehen, aber von mir kommt auch nur ein leiser Hauch: "Guten Morgen". Ich halte diesen Anblick, meine Angst, meinen Schmerz kaum noch aus.
Hinter ihnen erscheint J. Das endlose Schweigen wird mir unerträglich, so sage ich: "Kommt her und esst etwas". Von M. kommt: "Ich habe keinen Hunger". J. antwortet mir: "Ich bin satt".
M. gibt mir N. in den Arm: "Mutti gib N. bitte die Flasche". Ich drücke N. an mich und während sie langsam ihr Fläschchen trinkt rede ich leise auf sie ein. M. ist in den Garten gegangen und nimmt die Wäsche von der Leine.
- Gestern Nachmittag kam ein Mitarbeiter vom Rat des Kreises zu M. in die Drogerie und teilte ihr mit, dass ihr Antrag auf Familienzusammenführung genehmigt wurde. – Sie und N. müssen heute, Dienstag, den 20. August 1985, bis 20 h die DDR verlassen haben. – M. kam schnell und aufgeregt von der Arbeit zu mir in die Bank und erzählte die Neuigkeit. Eilig fuhren wir nach Hause. In meinem Kopf flogen die Gedanken wild umher. Was war zuerst zu tun? An alles, was M. für sich und N. benötigt, musste gedacht werden; denn nachsenden ist nicht drin, ist verboten. Von M. und N. – mit ihren knapp 8 Monaten – lag noch benutzte Wäsche im Korb. So wollte ich die Sachen nicht in den Koffer tun. Einen Teil der Wäsche nahm I. – unsere Nachbarin - zum Waschen mit und die übrigen Sachen steckte ich in die Waschmaschine. -
Abschied und Schmerz
Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. N. hat ausgetrunken. Ich gehe mit ihr ins Bad und zum Anziehen lege ich sie auf die Wickelkommode. Mein Impuls, meine Sehnsucht: ich möchte Nadine in die Arme nehmen, ganz fest an mich drücken und sie nicht mehr los lassen. Ich darf, kann, wage es nicht und so versuche ich mit zittriger Stimme dem Kind ein Lächeln zu entlocken.
Die " unter die Haut gehende " Geschichte geht hier weiter:
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