Mit zwei Koffern in den Westen
Blinkende Reklame, schwere Münzen, pralle Schaufenster: In Westberlin entdeckt Klaus Nerger eine neue Welt. Als Neunjähriger flüchtet er Anfang 1953 mit seiner Mutter aus der DDR. Der Sohn eines Wehrmachtsoffiziers hätte im Osten keine Chance gehabt.
Flüchtlingsmädchen: Die Meldestelle des Westberliners Senat für Ostflüchtlinge in der Kuno-Fischer-Straße.
Signatur in Bundesarchiv: B145Bild-P004769
Ich, Jahrgang 1943, hatte keine Ahnung von den wahren Absichten meiner Mutter, wunderte mich aber über ihren tränenreichen Abschied von ihren Eltern, meinen Großeltern. Sie wollte doch nur über Silvester für ein paar Tage zu entfernten Verwandten nach Cottbus fahren. Nach einer langen Fahrt mit einem von einer Dampflok gezogenen Zug der Reichsbahn in Ostberlin angekommen, stiegen wir nicht in einen Zug, der uns an den vorgegebenen Zielort weiter transportieren sollte, sondern nahmen vom Bahnhof Friedrichstraße eine S-Bahn in Richtung Westberlin. Von der Unruhe meiner Mutter, die erst von ihr abfiel, als wie den ersten im Westen gelegenen Bahnhof passierten, merkte ich nichts.
Mich faszinierten vielmehr die nie zuvor gesehenen bunt blinkenden Leuchtreklamen und die hell erleuchteten Auslagen der Geschäfte, die plötzlich beiderseits der S-Bahn auftauchten. Die vielen Menschen auf dem Bahnsteig und später in den Straßen - und merkwürdig genug - die roten Warnblinklichter auf den hohen Gebäuden der Stadt.
Um zur Meldestelle für "Zonenflüchtlinge" zu gelangen, musste meine Mutter eine neue Fahrkarte kaufen, und sie bezahlte mit Geld, das ich nie zuvor gesehen hatte. Die Münzen, die sie jetzt benutzte, lagen nicht so leicht in der Hand wie das mir bekannte DDR-Geld. Sie waren massiver und schwerer. Ich konnte gar nicht glauben, dass es innerhalb Deutschlands zwei verschiedene Währung geben sollte.
Bürgersohn ohne Chancen
Nach einem Besuch auf der Meldestelle für "Zonenflüchtlinge" und einer oberflächlichen medizinischen Untersuchung wurde uns, die wir nur einen großen und einen kleinen Koffer sowie ein Kissen bei uns hatten, das Aufnahmelager Tempelhof in der Volmarstraße zugewiesen. Wenn ich mich recht erinnere, handelte es sich bei dem riesigen Gebäude um eine ehemalige Büro- und Fabrikationsstätte der Firma Siemens. Breite Steintreppen führten hinauf in die einzelnen Geschosse. Ich erinnere mich, dass dort ein Filmteam Aufnahmen machte. Anfang des Jahres 1953 war das Lager völlig überfüllt. Alte und Junge, Ehepaare mit Kindern und Alleinstehende drängten sich in den großen Hallen, die durch Holzverschläge und grauen Decke, die auch als Bettzeug dienten, unterteilt waren.
Obwohl Kinder eine solche Situation vielleicht eher als ein Abenteuer auffassen, war ich sehr unglücklich. Als meine Mutter mir jetzt eröffnete, dass wir nicht wieder nach Hause zurückkehren würden, weinte ich bitterlich. Sie hatte sich entschlossen ihre Heimat auf Nimmerwiedersehen zu verlassen, da mein Vater, Wehrmachtsoffizier, als im Krieg vermisst gemeldet worden war und SED-Angehörige ihr eröffnet hatten, dass ihr Sohn als Angehöriger der bourgeoisen Klasse kaum je werde die höhere Schule und eine Universität besuchen können. Zudem hatte sie mit Entsetzen festgestellt, dass ihr kleiner Sohn unbedingt "junger Pionier" werden wollte und sich auch für andere "Freizeitangebote" der Partei zu interessieren begonnen hatte.
Abenteuerspielplatz Aufnahmelager
Für meine Mutter begann jetzt ein langwieriger Gang durch die Bürokratie des Aufnahmeverfahrens. Während sie an jedem Tag auf irgendeinem der Ämter zu erscheinen hatte, gewöhnte ich mich allmählich an das Lagerleben. Es gab viele Kinder, mit denen ich spielen konnte, und so wurde das Lager zu einer Art von Abenteuerspielplatz. Ich nahm es sogar hin, dass meine Mutter für ein oder zwei Tage zu einem Verhör durch US-Angehörige in das Camp King im hessischen Oberursel gebracht wurde.
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