Zeitzeuge Werner berichtet über den Ev. Kirchentag in Leipzig 1954
Meine Erinnerungen an den letzten gesamtdeutschen Kirchentag vor fast 50 Jahren sind noch ganz deutlich. Sie stützen sich auf Tagebuchaufzeichnungen, die ich zu Beginn auszugsweise zitiere: „Dann setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Wir stecken die Köpfe aus den Fenstern. Jetzt kommen wir an den Eisernen Vorhang! Zwei Volkspolizisten mit Karabinern stehen an der Grenze. Dann sind wir „drüben“. Das erste, was uns ins Auge fällt, ist ein Transparent „Westdeutsche Brüder, seid gegrüßt!“ Der Zug rollt auf dem Bahnhof in Marienborn ein. Ein Lautsprecher tönt uns entgegen: „ Achtung, Achtung! Sie befinden sich jetzt auf dem Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik. Wir heißen Sie als Teilnehmer am Deutschen Evangelischen Kirchentag in Leipzig recht herzlich willkommen!“ Volkspolizisten besteigen unseren Zug, kontrollieren die Ausweise, prüfen die Aufenthaltsgenehmigung; wir müssen das mitgeführte Westgeld angeben. In einem Wagen wird eine ganz geringfügige Stichprobe des Gepäcks durchgeführt. Dann verlassen wir den Zug und betreten den Bahnsteig.
Ein Posaunenchor des Grenzkirchenkreises empfängt uns. Wir stehen um den Chor herum und singen unsere Kirchenlieder, mitten auf dem Bahnsteig. Frauen der Bahnhofsmission gehen am Zug entlang und teilen warmen Tee aus. Man kann ihnen die große Freude an den Gesichtern ablesen. Das ist auch beim Posaunenchor der Fall, der die Mühe nicht gescheut hat, in früher Morgenstunde um 3 Uhr auf dem Bahnhof zu sein, um uns einen schönen Empfang bereiten zu können. Die ausführliche Beschreibung der Stationen Magdeburg und Halle, an denen der Sonderzug länger hält, würde hier zu weit führen. Gegen Mittag erreichen wir Leipzig, und ich setze nun meinen Tagebuch-Auszug vom 6. Juli 1954 fort. Die Leipziger winken uns entgegen, und auch aus den Fenstern unseres Zuges strecken sich winkende Hände. Die zugehörigen Köpfe haben in den Fensteröffnungen keinen Platz mehr. Hinter der Sperre haben die Leipziger eine Gasse gebildet, durch die wir nun hindurchgehen. Auch dabei wird gesungen. Wir sind einer der ersten Züge, die hier eintreffen. Hier sieht man überall Transparente mit politischen Parolen. „Kämpft für Einheit, Freiheit und Frieden“ oder „Nieder mit der EVG*), gegen den Militarismus in Westdeutschland“ usw. Und dabei sehen wir hier in der DDR, der „Deutschen Demokratischen
Republik“, seit über neun Jahren die ersten deutschen Soldaten, Volkspolizisten genannt. Aber wir wollen so tolerant wie möglich sein, denn schließlich sind wir hier Gäste, und wir müssen dankbar sein, daß der Kirchentag hier überhaupt stattfinden darf. Wir werden von den Menschen hier beherbergt und verpflegt werden und ihnen das bißchen noch wegessen, weil es von der Monatsration abgeht. Die Lebensmittelkarten sind noch immer nicht ganz verschwunden.
Ich breche an dieser Stelle meine Tagebuchauszüge ab, um nur noch das wiederzugeben, was mir aus der zeitlichen Distanz in Erinnerung geblieben ist.
Zuerst ist das Straßenbild zu nennen: Die Schäden des Krieges waren noch stärker sichtbar als im Westen. Die Häuser wirkten grau, noch viele Ruinen waren zu sehen. Die Straßen holperig, die wenigen Autos klein und altertümlich, die überfüllten Straßenbahnen schaukelten auf ausgefahrenen Schienen. Der Schaffner rief merkwürdige Haltestellen aus wie „Karl-Marx-Allee“ oder „Ernst-Thälmann-Platz“ oder „Straße der Befreiung 8. Mai 1945“ und das alles in breitestem Sächsisch. Die Kleidung der Menschen wirkte ärmlich und fast so grau wie die Häuser. Im Gegensatz dazu vereinzelte Neubauten in stalinistischem Bombasmus: Das Stalin-Denkmal 1 ½ Jahre nach dem Tode des Diktators immer noch nicht gestürzt, sondern ehrfürchtig betrachtet. Auf dem Messegelände, wo die meisten Veranstaltungen des Kirchentages stattfanden, als Blickfang das riesige Sowjetische Ehrenmal mit einem großen roten fünfzackigen Stern, der nachts von innen leuchtete - sozusagen als Gegensymbol zum christlichen Kreuz.
Unvergeßlich sind mir die Bibelarbeiten in den Messehallen mit Pastor Wilhelm Busch aus Essen oder mit Professor Helmut Gollwitzer aus Berlin, bekannt geworden durch sein Tagebuch in russischer Kriegsgefangenschaft „Und führen, wohin du nicht willst“. Daneben die vielen musikalischen und kulturellen Veranstaltungen, etwa mit dem Leipziger Thomanerchor oder dem Dresdner Kreuzchor.
Die Hauptsache für mich aber waren die vielen guten und intensiven Gespräche mit den Menschen in der DDR, die wie wir Kontakte suchten und sich über jede Begegnung freuten. Hauptthema war das Christ sein im Kommunismus, die Spannung zwischen Kirche und Staat, die politischen, wirtschaftlichen und beruflichen Nachteile für christliche Gemeindemitglieder sowie etwa die Spannung zwischen Konfirmation und Jugendweihe. Immer wieder standen unsere Gesprächspartner unter dem Druck, nicht oder nicht alles sagen zu können, was sie dachten. Auch auf dem Kirchentag fürchteten sie Spitzel.
Diese Tage sind mir deshalb so gut im Gedächtnis geblieben, weil sie für mich als Zwanzigjährigen zu einer Erstbegegnung mit einem Kirchentag und mit dem anderen Teil Deutschlands wurden, die in späteren Jahren nie wieder diese Intensität erreichte. Die Frömmigkeit und der Bekennermut der DDR-Christen in einer atheistisch-feindlichen Umgebung beschämte uns „freie Westler“ und Bundesbürger damals. Aber es war für uns auch eine Gelegenheit, das eigene Christ sein kritisch zu überdenken. Wir kehrten „reich beschenkt“ nach Westen zurück.
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